Der tausendfältige Gedanke
Mienen: Schmerz und Hoffnung, Wut und Leidenschaft! Während wir bloß Vermutungen anstellen, wissen sie – wie Hirten am Morgenhimmel das Wetter des Nachmittags erkennen. Und was Menschen kennen, das beherrschen sie.«
Die Qual in seiner Stimme brannte so hell, als erleuchtete ein Lichtstrahl sein Gesicht. Achamian hörte seine Tränen und spürte seine höhnische Grimasse.
»Er hat mich gewählt. Er hat mich erzogen und geformt, wie Frauen Feuersteine behauen, um damit Häute zu schaben. Er hat mich benutzt, um meinen Vater zu töten. Er hat mich benutzt, um seine Flucht zu sichern. Er hat mich benutzt…«
Der Schatten verschränkte die Fäuste über seinem bulligen Brustkorb.
»Scham! Wutrim kut mi’puru kamuir! Ich konnte einfach nicht aufhören zu denken! Ich habe mich meiner Erniedrigung gestellt, ich habe sie verstanden, und dieses Verstehen hat mich verändert!«
Unwillkürlich schlang Achamian die Finger umeinander. Es gab nur den Schatten des Scylvendi und den Abgrund seines Chorums. Das war alles.
»Er stand für Intellekt… Er stand für Krieg! Das ist es, wofür sie stehen. Begreifst du denn nicht? Mit jedem Herzschlag bekämpfen sie die Umstände, mit jedem Atemzug erobern sie! Sie bewegen sich unter uns, wie wir uns unter Hunden bewegen. Wir jaulen, wenn sie uns Bissen zuwerfen, und wir winseln und wimmern, wenn sie strafend die Hand erheben… Sie lassen uns lieben! Ja, sie lassen uns lieben!«
Groß war die Nacht und weit das Terrain.
Und doch ergaben sie sich. Sie ergaben sich.
Zwei Schritte, ein Sprung. Beschwörungen des Raums. Zwei Welten, die einander kreuzten.
Hasen flitzten aus seinem Weg. Drosseln stoben vor seinen Füßen auf und warfen sich in die Luft. Schakale rannten mit hängender Zunge neben ihm her, bis ihre Glieder erlahmten.
»Wer bist du?«, keuchten sie mit letzter Kraft.
»Euer Meister!«, rief der göttliche Mann, als er sie abhängte. Und obwohl er Humor nicht kannte, lachte er, bis der Himmel bebte.
Euer Meister.
Wie konnte ein Herz eine solche Ungeheuerlichkeit ertragen?
Der Hexenmeister schaukelte im Schein der Kerze erst vor und zurück, dann hin und her und murmelte dabei.
»Zurück, zurück… ich muss noch mal anfangen…«
Aber er konnte nicht, noch nicht. Nie zuvor war er an einem solchen Gespräch beteiligt gewesen. Nie zuvor hatte er so beunruhigende Worte vernommen.
Er wusste, dass der Scylvendi den Kriegerpropheten – Achamians letzten, begabtesten Schüler – töten wollte. Er wusste, was die beiden Schatten hinter dem Utemot gewesen waren. Als sie das Zelt verließen, hatte er ihr Gesicht im Mondlicht gesehen. Es war so vollkommen gewesen wie in der Nacht, da er mit ihr geschlafen hatte. Serwë…
Du hast den Kriegerpropheten verraten… Du hast dem Barbaren gesagt, wohin er unterwegs ist!
Weil er lügt! Er stiehlt, was uns gehört! Was mir gehört!
Aber die Welt! Denk an die Welt!
Die Welt? Soll sie doch brennen!
»Der Anfang!«, rief er. Bitte.
Vor ihm auf dem Seidenbettzeug lagen Pergamentbündel verstreut. Er tauchte die Feder ins Tintenfass und murmelte, murmelte… Rasch schrieb er all die Namen der Gruppen auf, die ihm so zu schaffen gemacht hatten, und erstellte noch einmal das Schema, das in der Sareotischen Bibliothek verbrannt war.
Er hielt bei
INRAU
inne, suchte sich seine Trauer zu vergegenwärtigen und wurde von Erinnerungen heimgesucht, die – wie es schien – nicht mehr von Bedeutung waren. Als er
DIE RATHGEBER
niederschrieb, überkam ihn ein solches Schaudern, dass er die Feder ablegen und die Arme vor der Brust verschränken musste.
Du hast ihn verraten!
Nein! Nein!
Als er fertig war, schien er das Pergament in Händen zu halten, das er verloren hatte. Er dachte über die Gleichartigkeit von Dingen nach und darüber, dass Worte bei Wiederholungen keine Unterschiede machten.
Schwungvoll strich er
DER KAISER durch, schrieb
CONPHAS
darunter und dachte an all das, was der Scylvendi über den neuen Kaiser gesagt hatte – vor allem, dass er gegenwärtig von Westen oder vom Meer her auf den Heiligen Krieg zumarschierte. »Warne sie«, hatte der Schatten gesagt. »Ich möchte nicht, dass Proyas stirbt.«
Schnell trug er ein Geflecht neuer Linien ein, die all die Verbindungen darstellten, die er seit seiner Entführung durch die Scharlachspitzen vernachlässigt hatte. Dann schrieb er in einer Handschrift, die zu ruhig war, um die seine zu sein,
DIE DÛNYAIN in die Lücke links
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