Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
Vom Netzwerk:
von
    ANASÛRIMBOR KELLHUS.
    Er hielt die Feder eine Zeit lang über diesem Namen. Zwei Tropfen Tinte fielen auf sein Schema. Er sah zu, wie sie sich ausbreiteten, in viele unendlich kleine Adern drangen und den Namen unleserlich werden ließen.
    Das brachte ihn dazu,
    ANASÛRIMBOR MOËNGHUS
    darüber zu schreiben, wobei er nicht Kellhus’ Sohn mit Serwë, sondern seinen Vater meinte – den Mann also, der Kellhus ins Gebiet der Drei Meere gerufen hatte.
    Gerufen!
    Er tauchte die Feder erneut ins Tintenfass, wobei ihm seine Hand so leicht wie eine Erscheinung vorkam. Wie von dämmernder Einsicht vorwärts gedrängt, schrieb er langsam
    ESMENET auf den linken, oberen Rand des Blattes.
    Wie war ihr Name zu seinem Gebet geworden? Wohin gehörte sie bei diesen ungeheuerlichen Ereignissen?
    Wo stand sein eigener Name?
    Er betrachtete das vervollständigte Schema und merkte nicht, wie die Zeit verging. Um ihn herum erwachte der Heilige Krieg. Rufe und Hufgeklapper drangen in sein Zelt – und durch ihn. Er war zu einem Geist geworden, der nicht nachdachte, sondern nur noch beobachtete, als läge das Geheimnis in der Reglosigkeit der Tinte versteckt.
    Menschen. Orden. Städte. Nationen.
    Propheten. Liebhaber.
    Es ergab kein Muster. Es fehlte der umfassende Gedanke, um all dem Bedeutung zu verleihen. Es handelte sich nur um Menschen und ihre widerstreitenden Wahnvorstellungen… Die Welt war ein Leichnam.
    Eine Lektion von Xinemus.
    Ohne zu wissen, warum, begann er, jeden Namen mit dem Wort
    SHIMEH
    zu verbinden, das unten auf der Mitte der Seite stand. Er zog Linie für Linie zu der Stadt, die nun so viele Schuldige wie Unschuldige verschlingen würde – zu der blutrünstigen Stadt.
    Esmenets Namen verband er als letzten mit Shimeh, denn er wusste, dass sie die Stadt mehr als jeder andere brauchte – von ihm selbst vielleicht abgesehen. Als der schwarze Strich gezogen war, setzte er die Feder erneut an und zog ihn noch mal. Und wieder. Und wieder. Und wieder. Und schneller, immer schneller, bis er das Pergament zerfetzt hatte.
    Denn er war überzeugt, seine Feder habe sich in ein Messer verwandelt… und unter der tätowierten Haut liege Fleisch.



15. Kapitel
     
    SHIMEH
     
     
     
    Wenn der Krieg nicht die Frau in uns tötet, dann tötet er den Mann.
     
    Triamis I.: Tagebücher und Dialoge
     
     
    Gleich vielen, die beschwerliche Reisen auf sich nehmen,
    verließ ich ein Land weiser Männer
    und kehrte zu einer Nation von Dummköpfen zurück.
    Wie die Zeit duldet auch die Unwissenheit keine Wiederkehr.
     
    Sokwë: Zehn Jahreszeiten in Zeüm
     
     
     
    SHIMEH, FRÜHLING 4112
     
    Stilles Licht, von Tautropfen gebrochen. Dampf, der von dunklen Zeltwänden aufsteigt. Lange, allmählich schrumpfende Schatten der Kriegsmaschinen. Grautöne, die in prächtige Farben übergehen. Und in der Ferne das golden glitzernde Meer.
    Es war Morgen, und die Welt begann ihre langsame Verbeugung vor der Sonne.
    Sklaven wedelten Rauch von den Feuerstellen und gewannen der in der Asche des Vorabends begrabenen Holzkohle mit trockenem Gras neue Flammen ab. Die Schlaflosen rappelten sich auf, saßen in der Kälte und betrachteten ungläubig den sich windenden Rauch.
    Die ersten Hörner dröhnten über die Ebene.
    Der Tag war gekommen. Vor einem Fächer steigenden Lichts lag das schwarze Shimeh und erwartete sie.
    »Euer Vater«, hatte der alte Mann in Gim gekrächzt, »lässt Euch ausrichten… «
    Kyudea erhob sich aus dem Weideland wie eine zerstörte Steinpyramide. Fundamente zogen sich durchs Gras. Verwitterte Steine bekrönten die Höhen weitläufiger Hügel. Hier und da ragten umgestürzte Säulen aus dem Boden, als habe die Dünung eines Erdmeers die Stadt untergehen lassen.
    Der Kriegerprophet ging in den Trümmern umher und zeichnete mit jedem Atemzug eine künftige Wirklichkeit. Seine Seele verzweigte sich ins Dunkel der Möglichkeiten. Seine Gedanken verästelten sich immer mehr, bis er die Umgebung ausfüllte und weiter ausgriff, ins ausgelaugte Erdreich der Vergangenheit hinein und zum stetig zurückweichenden Horizont der Zukunft.
    Städte brannten. Ganze Nationen waren auf der Flucht. Ein Wirbelwind zog herauf…
    ›»Es steht nur ein Baum in Kyudea…‹«
    Obwohl ringsum nur Steine lagen, sah Kellhus die Vergangenheit – prachtvolle Prozessionen, wimmelnde Durchgangsstraßen, massige Tempel. Als die Provinzen südlich des Sempis eigene Nationen gewesen waren, war Kyudea so groß wie Shimeh gewesen, wenn nicht

Weitere Kostenlose Bücher