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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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größer. Nun lag die Stadt stumm und brach da, war nur noch eine Zuflucht für Schafhirten, die dort bei Sturm ihre Herden unterstellten.
    Einst war dies ein Ort des Glanzes und der Herrlichkeit gewesen. Nun gab es nur noch eingestürzte Mauern, Gras, das im Wind wehte, und…
    … Antworten.
    »›Es steht nur ein Baum in Kyudea‹«, hatte der Alte mit der Stimme eines anderen gesagt, »›und ich wohne unter ihm.‹«
    Und Kellhus hatte zugeschlagen und ihn bis zum Herzen gespalten.
     
     
    Er war benutzt und getäuscht worden, und zwar von Anfang an… Das hatte der Scylvendi behauptet.
    »Aber ich bin nicht wie die anderen!«, hatte Achamian protestiert. »Ich glaube nicht um meines Herzens willen!«
    Cnaiür hatte nur die mächtigen, vernarbten Schultern gezuckt. »Deshalb hat er dir deine Sorgen zugestanden… um sie zur Grundlage einer noch tieferen Ergebenheit zu machen. Wahrheiten sind seine Messer, und jeden von uns hat er damit getroffen!«
    »Was soll das heißen?«
    Mit dem tintenverschmierten Pergament in der Hand strich Achamian im Lager umher und drängte sich zwischen den vielen bewaffneten oder sich bewaffnenden Inrithi hindurch, ohne die zu bemerken, die sich vor ihm verbeugten und ihn mit Heiliger Tutor anredeten. Er gelangte von den strahlenförmig angelegten Wegen der Leute aus Conriya zu den eher zufällig entstandenen Zeltgassen der Leute aus Ce Tydonn und sah einen alternden Ritter aus Meigeiri mit langem, grauem Bart in voller Rüstung vor seiner rauchenden Feuerstelle knien.
    »Nimm meine Hand«, hörte Achamian ihn singen, »und knie vor ihm…«
    Unvermittelt schlug der Ritter die Augen auf und funkelte ihn, noch während er seine Tränen wegwischte, zornig an. Die folgenden Worte des Liedes – »… der das Licht vermehrt« – schienen ungesungen zwischen ihnen zu schweben. Dann wandte der Ritter sich ab und sammelte verärgert Waffen und Ausrüstung ein. Hörner dröhnten über die morgendliche Ebene.
    »Nimm meine Hand« war eine von hundert Hymnen auf den Kriegerpropheten. Die meisten kannte Achamian auswendig.
    Er blickte die überfüllte Zeltgasse hinunter und sah auch andere knien, teils allein, teils zu zweit oder zu dritt. An der Wegbiegung ermahnte ein Richter Dutzende reuiger Sünder. Überall erblickte er das Zeichen des Kriegerpropheten – auf Schilde gemalt; an Halsketten befestigt; auf Umhänge und Banner gestickt. Die ganze Welt schien voller Hingabe.
    Wie war das passiert?
    Was Kellhus damals im Apfelgarten gesagt hatte, stimmte: Wer vor Gott im Staub kniete, stand hoch über denen, die sich anderen unterworfen hatten. In Abwesenheit eines Königs regierten unweigerlich seine Diener. »Was ich tue«, sagten die Frommen, »tue ich für Ihn«, und beriefen sich dabei auf Verfügungen, die so alt und metaphernselig waren, dass sich jeder Hass und jeder Hochmut in sie hineininterpretieren ließ. Was sich jenseits der trüben und unsicheren Bahnen dieses Lebens befand und sie zu verlassen erlaubte, schien wie ein Schwert hinterm Horizont versteckt. Man musste nur die Hand ausstrecken und die Waffe ziehen…
    Was war zu knien anderes als eine weitere schamlose Völlerei? Wer missgönnte anderen schon den Nachtisch, wenn das Fleisch gleich aufgetragen würde? Die Welt selbst stand zum Verzehr. Ihr Lärm hatte sich in Musik verwandelt, ihre Launen in Speisefolgen, die nur um der Frommen willen serviert wurden. Alles war für sie.
    Und die anderen? Sie brauchten nur zu betteln.
    »Was soll das heißen?«, hatte er den Scylvendi angeschrien.
    »Dass selbst du, der stolze Neinsager, sein Sklave bist. Dass er an der Quelle all deiner Gedanken kauert und dich wie Wasser in seinen Kelch laufen lässt.«
    »Aber meine Seele gehört mir!«
    Daraufhin hatte Cnaiür düster, kehlig und boshaft gelacht, als wären alle Leidenden letztlich nur Narren.
    »Dieser Gedanke ist ihm der liebste.«
    Achamian hatte in Kellhus Gewissheit gefunden, obwohl er Esmenet an ihn verloren hatte. Er hatte in seinen Qualen sogar eine Art Beweis gesehen. Solange seine Last ihn schmerzte, musste sie – wie er sich einredete – echt sein. Anders als viele glaubte er nicht, weil der Glaube ihm schmeichelte. Seswathas Träume überzeugten Achamian davon, dass seine Bedeutung mehr eine Sache des Schreckens als des Stolzes wäre. Und seine Erlösung war etwas viel zu… Abstraktes.
    Jemanden zu lieben, der ihm Unrecht getan hatte – darin bestand seine Prüfung! Und das, obwohl er ungemein fest in der

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