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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Es begann damit, dass es Abfälle regnete: Urin und Exkrement drangen aus Spalten und flossen in Gänge, die sie durchwaten mussten. Sie kamen an Schächten vorbei, die einst Flure gewesen waren und wo sich nun Schlammströme in endlose Dunkelheit ergossen. Sie umrundeten große Gruben voll verwesender Toter, die aus unbekannter Höhe heruntergeworfen worden waren. Einmal hatten sie einen brackigen See durchquert, in dem sich das Regenwasser von Jahrtausenden gesammelt haben musste.
    Beim Baden hatten sie vor Erleichterung geweint. Sich an so einem Ort waschen zu können, war das Schlechteste nicht.
    Natürlich hatte Seswatha Gerüchte gehört. Einmal hatte er sogar ausführlich mit Nil-Giccas geredet, der sich Jahrtausende zuvor durch diese Gänge gekämpft hatte. Nichts aber hatte Seswatha auf die furchtbare Unermesslichkeit von Incu-Holoinas vorbereiten können. Dem König der Nichtmenschen nach hatte höchstens einer von hundert Inchoroi den Sturz der Arche vom Himmel überlebt, und doch hatten Abertausende von ihnen im Laufe ihrer unzähligen Kriege gegen die Nichtmenschen gekämpft. Die Arche war, wie Nil-Giccas behauptet hatte, eine Welt für sich, ein Labyrinth aus Labyrinthen. »Sei vorsichtig«, hatte er mit weißen Lippen gesprochen. »So viel er auch fasst – der Kelch des Bösen läuft immer über.«
    Nau-Cayûti hatte das Licht als Erster entdeckt, einen bleichen Schimmer am Ende eines Seitengangs. Sie löschten ihre Laterne und schlichen aufwärts. Die Stille stellte sich wie von selbst ein. Die Planken, die den schiefen Boden begradigt hatten, waren schon lange einer Art Erde gewichen, bei der es sich nach Seswathas Ansicht um Abfälle handelte, die im Laufe der Zeit hier liegengelassen und festgetrampelt worden waren. Mit jedem Meter wurde der Gestank stechender. Als sie die letzten Schritte hinter sich brachten, nahm der donnernde Lärm nochmals zu.
    Der Gang endete einfach, und was ein einzelnes Licht gewesen war, fiel nun in tausenden Strahlen in die gähnende Leere. Nau-Cayûti hatte keuchend geflucht, Seswatha aber war nach ein paar Momenten atemlosen Erstaunens auf die Knie gefallen und hatte sich übergeben. Was er da roch, war menschlicher Natur und schien von allem Gestank der unerträglichste zu sein.
    Unvermutet sahen sie auf eine Stadt – auf das dampfende Herz von Golgotterath.
    Er sollte wach sein!
    Ein gähnendes Tal öffnete sich vor ihnen, das Seswatha an den gerippten Bauch eines Schiffs denken ließ, am Ende aber abfiel und viel zu groß war, um einem menschlichen Bauwerk zu ähneln. Goldene Steilwände stiegen im Rauch zahlloser Feuer bis in die Finsternis auf. Bauten aus Haustein ragten zu ihren Füßen auf und klammerten sich wie Wespennester an den Fels. Es handelte sich dabei nicht um Wohnungen, sondern um zahllose offene, elende Zellen. Wären die Feuer und die wie Milben dazwischen herumwuselnden Gestalten nicht gewesen, hätte alles ausgesehen wie von der Ebbe zum Vorschein gebracht: Bashrag in trampelnden Schlangen, Sranc in plappernden Massen – und dazwischen unzählige menschliche Gefangene, die teils in großen, ächzenden Kolonnen an Schlitten gekettet waren, teils unter den zuckenden Schatten derer keuchten, von denen sie gefangengenommen worden waren.
    Er sollte wach sein…
    Dröhnendes Gebrüll wurde von den Steilwänden aus fremdem Gold zurückgeworfen und hallte durch Knochen und Herz, hallte und hallte…
    Nau-Cayûti sank auf die Knie. »Was ist das?«, fragte er kaum hörbar.
    Er drehte sich zu seinem Lehrer um. Seine Augen waren so weit aufgerissen wie die eines Wahnsinnigen. »Das?«
    Er klang wie ein jeder Hoffnung beraubtes Kind.
    Wach auf!
    Seswatha spürte, wie er hochgehoben und zurück in die Finsternis geworfen wurde. Sein Schädel krachte gegen etwas, und alles wurde dunkel, bis er nur noch die Qual seines geliebten Schülers wahrnahm, seinen wahnsinnigen Schmerz!
    »Wo ist sie? Wo – «
    Wach auf, du Dummkopf!
    Keuchend kämpfte Achamian sich aus dem Schlaf Shimeh!, dachte er, Shimeh! Über ihm war ein Schatten, umgeben vom Ring seiner wirkungslosen Abwehrformeln. Und dann war da noch ein großes, zerschmetterndes Nichts, das in kleinen Kreisen an einer Lederschnur schwang: ein Chorum, das fingerbreit über seiner Brust pendelte.
    »Vor einiger Zeit«, knurrte der Scylvendi, »habe ich während der leeren Stunden des Nachdenkens plötzlich verstanden, dass du genauso sterben wirst wie ich…« Ein Zittern lief durch die Hand, die die Schnur

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