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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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funkelte den Häuptling so entrüstet wie verwirrt an.
    »Und wenn ich von der Wahrheit die Nase voll habe?«
    »Es geht mir um die Wahrheit über ihn«, sagte der Scylvendi.
    Achamian musterte Cnaiür und blinzelte, als blickte er in die Ferne, obwohl er direkt vor ihm aufragte. »Diese Wahrheit kenne ich schon«, sagte er wie betäubt. »Er ist – «
    »Nichts weißt du!«, knurrte der Barbar. »Gar nichts! Nur, was er dich hat wissen lassen.« Er spuckte neben Achamians nackte Füße und fuhr sich mit der Hand, die das Chorum hielt, über die Lippen. »Genau wie all seine Sklaven.«
    »Ich bin kein Sklave – «
    »Natürlich bist du das! In seiner Gegenwart sind alle Menschen Sklaven, Hexenmeister.« Der Scylvendi lehnte sich zurück, um die Beine zu kreuzen, während er das Chorum fest umklammert hielt. »Er ist ein Dunyain.«
    Nie hatte Achamian einen derart zitternden Hass in einem Wort gehört, obwohl die Welt voller vergleichbar schlimmer Begriffe war:
    Scylvendi, Rathgeber, Fanim, Cishaurim, Mog-Pharau… Manchmal schien es, als gäbe es genauso viele Hassgefühle wie Namen.
    »Das Wort Dunyain«, sagte er vorsichtig, »bedeutet in einer toten Sprache einfach nur Wahrheit.«
    »Diese Sprache ist nicht tot«, stieß Cnaiür hervor, »und das Wort bedeutet nicht länger Wahrheit.«
    Achamian erinnerte sich ihrer ersten Begegnung vor den Toren von Momemn, daran, wie der Scylvendi stolz und wild vor Proyas gestanden hatte, während Kellhus Serwë inmitten von Xinemus’ Rittern im Arm hielt. Damals hatte er Cnaiür zunächst nicht geglaubt, doch die Enthüllung von Kellhus und sein Name Anasûrimbor hatten seine Zweifel ausgeräumt. Was hatte Kellhus damals gesagt? Dass der Scylvendi seine Wette angenommen habe? Ja, und dass er in weiter Ferne vom Heiligen Krieg geträumt habe…
    »Was ihr zwei uns am ersten Tag mit Proyas erzählt habt«, sagte Achamian, »war gelogen.«
    »Ich habe gelogen.«
    »Und Kellhus?« Diese Frage ließ seine Kehle schmerzen.
    Nach kurzer Pause entgegnete Cnaiür: »Sag mir, wohin er gegangen ist.« .
    »Nein. Du hast mir die Wahrheit versprochen… Ich werde keine ungeprüften Waren tauschen.«
    Der Barbar schnaubte, ohne dass es höhnisch oder verächtlich geklungen hätte. Er wirkte nachdenklich und verletzbar, was in krassem Gegensatz zu seiner martialischen Erscheinung stand. Achamian spürte, dass Cnaiür über diese Dinge sprechen wollte, als lägen sie ihm wie Verbrechen oder ein mächtiger Groll auf der Seele. Diese Erkenntnis erschreckte ihn weit mehr, als ein Chorum es je vermocht hätte.
    »Du denkst, Kellhus sei gesandt worden«, sagte der Scylvendi mit hohler Stimme, »doch er wurde gerufen. Du denkst, er sei einzigartig, doch er ist nur einer von vielen. Du denkst, er sei ein Retter, doch er ist nur ein Sklaventreiber.«
    Diese Behauptungen ließen Achamian erbleichen.
    »Ich verstehe nicht – «
    »Dann hör zu! Jahrtausendelang haben sie sich in den Bergen versteckt und von aller Welt isoliert gelebt. Jahrtausendelang haben sie sich vermehrt, aber nur die aufgewecktesten Kinder überleben lassen. Es heißt, keiner kenne sich mit langen und weitreichenden Geschichtsprozessen so gut aus wie du, Hexenmeister. Also mach dir klar, was es bedeutet, derlei jahrtausendelang zu betreiben – es bedeutet, dass wir, die leiblichen Söhne echter Väter, inzwischen kaum mehr als kleine Kinder für sie sind.«
    Das Folgende war zu… elementar, um gelogen zu sein. Die beiden Schatten, die hinter ihm saßen, bewegten sich nicht, während er redete. Die Stimme des Scylvendi war rau und vom kehligen Klang seiner Muttersprache geprägt, doch er äußerte sich mit einer Gewandtheit, die die Härte seines Volkes Lügen strafte. Er erzählte die Geschichte eines Jungen, der seiner kindlichen Zartheit eben entwuchs, als er in den Bann der Worte eines rätselhaften Sklaven geriet, die ihn in die weglosen Weiten der Steppe führten.
    Es war die Geschichte eines Vatermords.
    »Ich war sein Komplize«, sagte der Scylvendi. Gegen Ende seiner Geschichte war er nachdenklich in sich zusammengesunken und hatte mehr und mehr zu seinen Händen geredet, als wäre jedes Wort ein Kiesel, der zu einer viel zu schweren Last hinzugefügt wurde. Plötzlich hob er die Fäuste an die Schläfen. »Ich war sein Komplize, aber ich war es nicht willentlich!«
    Er stützte die Unterarme auf die Knie und streckte die Fäuste aus, als wollte er einen Knochen brechen.
    »Sie lesen unsere Gedanken in unseren

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