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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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schritten. Ihre blutroten Umhänge flatterten, und ihre Augen und ihr Mund leuchteten hell.
    Auf den Zinnen schnappten alle gleichzeitig nach Luft…
    Dann schoss ihnen gleißendes Licht entgegen.
    Der große Belagerungsturm, den Proyas’ Männer Zehenspitzen nannten, stöhnte und ächzte, während Ochsen und Sklaven ihn durch die Felder schoben. Als er am Abend zuvor schließlich fertig aufgebaut worden war, hatte Ingiaban sich laut gefragt, ob der Turm, der in Gerothas Mauern eine Schneise hatte schlagen sollen, groß genug war, um auch »Shimehs Türmen einen Kuss zu geben«. Mit dem ihm eigenen Humor hatte Gaidekki geantwortet, er müsse sich dazu »bloß auf die Zehenspitzen stellen«. Dieses Wort war am Turm haften geblieben.
    Das große Gerüst hob und senkte sich. Proyas stand auf der gedrängt vollen Turmkrone. Obwohl seine Knöchel bereits weiß waren, klammerte er sich fest an das Geländer. Um ihn herum und in den Stockwerken darunter lärmten Männer. Peitschenknallen drang von hinten herauf. Vor ihm markierte die grobkörnige Erde, mit der die Pioniere die durch die Felder laufenden Bewässerungsgräben aufgefüllt hatten, den Weg des Belagerungsturms. Am Ende der Spur warteten die weißen und ockerfarbenen Mauern von Shimeh, auf denen es von Heiden und ihren Speeren nur so wimmelte.
    Links von Proyas rumpelte Zehenspitzens Schwesterturm im gleichen Tempo voran. Er war größer als jeder Baum und mit triefnassem Tang umwickelt, was ihn wie ein gliederloses Tier aus einer anderen Welt wirken ließ. Auf allen sechs Stockwerken waren die Luken geöffnet, hinter denen Dutzende von Geschützen bereitstanden, um die Brustwehr der Tatokar-Mauern zu beschießen, sobald sie in Reichweite gekommen war. Die Aufseher der Zimmerleute, die den Zusammenbau der Türme geleitet hatten, priesen sie als ein Wunder der Baukunst. Wie hätte es auch anders sein sollen, da der Kriegerprophet sie doch entworfen hatte.
    Zehenspitzen rückte schwankend und mit kreischenden Achsen und Fugen immer näher an die weißgekachelten Mauern und ihre riesigen Augen heran…
    Bitte, Gott, betete Proyas unwillkürlich, lass diese eine Sache Wirklichkeit werden!
    Die ersten, von den in der Stadt versteckten, riesigen Katapulten geschleuderten Steine flogen auf sie zu. Zwar verfehlten sie ihr Ziel deutlich und schlugen vor den Türmen in die Erde ein, doch sie zu sehen hatte etwas Überwirkliches – als könnten solche Gewichte unmöglich so hoch geschleudert werden. Männer stießen Warnrufe aus. Ein Geschoss rauschte so knapp über sie hinweg, dass man es hätte berühren können! Es verfehlte sein Ziel, krachte aber mit tödlicher Wirkung in die lange Kolonne, die den Turm vorwärts schob. Zehenspitzen kam zum Stehen, so dass sein Gegenstück davonzog. Proyas sah die Querbalken an der Rückseite des zweiten Turms, die nur eine gewaltige Leiter war. Dann rumpelte Zehenspitzen wieder voran.
    Pfalzgraf Gaidekki tauchte plötzlich zwischen den Männern auf, die sich hinten auf der Krone des Schwesterturms drängten. Sein dunkles Gesicht strahlte.
    »Ruhm den Leichtfüßigen!«, rief er. »Wir wischen schon mal das Blut weg, damit ihr nicht ausrutscht, wenn ihr ankommt!«
    Alle lachten – wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen –, und einige riefen nach mehr Tempo. Das Gelächter nahm zu, als ein Beinahetreffer Gaidekki und seine Männer abzutauchen zwang.
    Dann blitzten die ersten Lichter am Massus-Tor auf, und alle drehten die Köpfe dorthin. Sie glaubten Schreie zu hören…
    Auch wenn die Hexenkunst ihnen nicht länger ein Gräuel war, wollten nur wenige Fromme – und sicher nicht die aus Conriya – den Scharlachspitzen folgen, erst recht nicht ins heilige Shimeh. Proyas beobachtete betäubt, wie riesige Flammenwellen über den Wachttürmen zusammenschlugen…
    Direkt unter ihm ertönten gedämpfte Rufe durch die Planken und dann ein abgehacktes Knacken, als würde jemand ein Dutzend Zweige nacheinander übers Knie brechen. Bolzengeschosse mit eiserner Spitze schwirrten aus den Geschützen, die an Luken unter ihm aufgereiht waren, und bestachen die Brustwehr der Stadtmauer, hinter der die Verteidiger dicht an dicht standen. Kurz darauf feuerte auch der zweite Belagerungsturm seine Geschütze ab. Bis auf die Bolzen, die an die gekachelte Mauer krachten und lediglich ein wenig Keramik zu Bruch gehen ließen, schienen die Geschosse in der Menge der Verteidiger zu verschwinden, die sich auf den Zinnen drängten.
    »Schilde!«, rief

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