Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
Vom Netzwerk:
Proyas. Nicht, dass sie gegen die heidnische Artillerie etwas ausrichten konnten, doch sie waren in die Reichweite der Bogenschützen gelangt.
    Etwas verdunkelte die Morgensonne… Wolken?
    Der erste Pfeilhagel prasselte auf sie und auf diejenigen herab, die sie vorwärts schoben.
    »Schießt!«, rief Proyas den Bogenschützen ringsum zu. »Reinigt die Zinnen!«
    Aus dem Augenwinkel bemerkte er ein entfesseltes Lichtertoben am Massus-Tor, hatte aber keine Zeit, näher hinzusehen. Die starren Augen der Stadtmauer kamen näher, und immer mehr Geschosse schwirrten durch die Luft. Als er seinen Schild senkte, konnte er unter den wimmelnden Verteidigern einzelne Heiden erkennen. Er sah, wie ein alter Mann, der sich eine Eisenschale als Helm um den Kopf gebunden hatte, von einem Bolzen in die Kehle getroffen wurde und rückwärts von der Mauer taumelte. Flammende Tiegel krachten gegen die Türme. Zwei trafen den Schwesterturm an der Seite und schütteten brennenden Teer auf den Tang. Plötzlich war alles rauchverhüllt, und prasselndes Feuer übertönte jedes andere Geräusch. Dann folgten ein Schlag und eine Erschütterung, die alle auf die Knie zwangen. Einer der riesigen Steine hatte den Turm getroffen. Aber wundersamerweise ächzte Zehenspitzen weiter voran. Der Boden unter Proyas hob sich wie ein Schiffsdeck. Der Prinz duckte sich unter seinen Schild, während die Bogenschützen ringsum ihre Pfeile anlegten, aufstanden, schossen, in die Hocke gingen und die nächsten Pfeile anlegten. Jeder zweite Mann schien rückwärts zu taumeln und nach einem Pfeil zu schlagen, der ihm im Leib stak. Die Ritter zogen die Getroffenen weg und warfen sie über die Seiten, um Platz für die von unten Nachdrängenden zu schaffen. Das mächtige Getöse und gewaltige Krachen von Steinen, das nun zu hören war, konnte nur vom Massus-Tor kommen. Doch schrille Schreie von links lenkten Proyas’ Aufmerksamkeit auf den Schwesterturm, dessen Krone ein flammender Tiegel getroffen hatte. Brennende Ritter warfen sich vom Gerüst und krachten auf ihre Kameraden am Boden.
    »Gaidekki«, rief Proyas zum anderen Turm hinüber. »Gaidekki!«
    Die missmutige Miene des Pfalzgrafen tauchte zwischen den Holzstreben auf, und Proyas lächelte trotz der Pfeile, die sie umschwirrten. Dann war Gaidekki plötzlich verschwunden. Proyas sank in die Knie und blinzelte fassungslos, doch es blieb ihm hartnäckig vor Augen, wie ein Stein dem Pfalzgrafen das Genick und die Schultern gebrochen hatte.
    Der Himmel wurde schwarz. Obwohl der Schwesterturm lichterloh brannte, rumpelten die Belagerungstürme immer näher an die Stadtmauer heran. Dann waren die weißgekachelten Mauern nah genug, dass man sie auch mit Kleidungsstücken hätte treffen können. Hinter den Zinnen waren nur Waffen und johlende Gesichter zu sehen. Proyas sah, wie sich eines der großen Augen in den Kacheln öffnete, und nahm flüchtig Straßen und Bauten wahr, die sich bis zu den Heiligen Höhen erstreckten. Dal Dal Der Erste Tempel!
    Shimeh!, dachte er. Shimeh!
    Er senkte die silberne Kriegsmaske und sah seine gebückten Landsleute das Gleiche tun. Die Enterbrücke fiel, und ihre Eisenhaken schlugen in die Zinnen. Zehenspitzen war groß genug, um Shimehs Türmen einen Kuss zu geben.
    Mit einem Schrei, der Gott und dem Propheten galt, stürmte der Prinz den Schwertern des Feindes entgegen…
     
     
    Der Baum war nicht zu verfehlen.
    Er stand am Rand eines größeren Hügels mitten im Trümmerfeld und glich an Umfang und Höhe dem schwarzen Umiaki. Der Stamm hatte seine Rinde verloren, und die Äste ragten wie gewundene Stoßzähne in die Luft.
    Kellhus erklomm die Reste einer gewaltigen Treppe, die in den Hang gebaut war, und stand bald unter seinen wuchtigen Ästen. Hinter dem Baum erstreckten sich umgestürzte Felsblöcke und Reihen abgebrochener Säulen über dem eingeebneten Gipfel. Pflastersteine umgaben den Stamm, doch die gewaltigen Wurzeln hatten sie hochgedrückt und rissig werden lassen, und Richtung Shimeh hatte der Boden im Ganzen nachgegeben.
    Er legte die Hand an den unbeweglichen Stamm und strich mit den Fingerkuppen über die gefurchten Linien der Oberfläche, die von altem Wurmfraß herrührten. An der Abbruchkante blieb er stehen und musterte die schwarzen Wolken, die sich am Horizont gebildet hatten – über Shimeh. Ihm war, als vernähme er fernes Donnergrollen. Dann ließ er sich an der Abbruchkante herunter und hielt sich an den freiliegenden Wurzeln fest, um seinen Abstieg

Weitere Kostenlose Bücher