Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker

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Chronik des Stoßzahns hatten? Oder würde sie einfach die Prophetengemahlin sein?
    Die Hure von Sumna.
    Der Himmel verdüsterte sich, und das mörderische Tosen schwoll im Morgenwind immer stärker an. Endlich geschah es… und sie konnte es nicht ertragen. Nein, sie konnte es nicht ertragen.
    Ohne auf die dringenden Bitten einzugehen, den Angriff vom Rand des Lagers aus zu beobachten, kehrte sie zum Zelt des Kriegerpropheten zurück. Von ein paar Sklaven abgesehen, die sich an ihren Frühstücksfeuern versammelt hatten, war es verlassen. Nur einer von den Hundert Säulen – ein Galeoth mit bandagiertem Oberschenkel – hielt Wache. Er verbeugte sich tief und steif, als sie an ihm vorbei ins abgetrennte Dunkel des Zelts stürmte. Als sie die mit Wandteppichen behängten Korridore entlangging, rief sie zweimal, bekam aber keine Antwort. Alles war ruhig, still. Das Getöse des Heiligen Kriegs schien unendlich weit weg zu sein, als lauschte sie durch die Fugen dieser Welt den Ereignissen in einer anderen. Schließlich stand sie im Schlafgemach des toten Padirajah und sah auf das große, vergoldete Bett, in dem Kellhus und sie schliefen. Sie stapelte ihre Bücher und Schriftrollen auf der Matratze, kroch auf das Laken und verteilte die Texte um sich herum. Statt sie aber zu lesen, berührte sie sie nur und genoss die glatten, trockenen Oberflächen. Einige hielt sie so lange, bis sie warm wie ihre Hände wurden. Dann zählte sie sie aus unerfindlichen Gründen ab, wie ein Kind, das um seine Spielsachen besorgt ist.
    »Siebenundzwanzig«, sagte sie vor sich hin. Hexenkünste blitzten weit weg durch die Luft. Ihr Donner ließ die goldenen und gläsernen Gegenstände der Einrichtung klirren.
    Siebenundzwanzig geöffnete Türen, aber kein Ausweg.
    »Esmi«, sagte eine heisere Stimme.
    Sie weigerte sich einen Moment lang, aufzuschauen. Ihr war klar, wer es war. Mehr noch: Sie wusste genau, wie er aussah – seine Augen waren trostlos, seine Haltung verhärmt, und sein Daumen strich über die Haare auf seinen Fingerknöcheln… War es nicht ein Wunder, dass so viel in einer Stimme verborgen sein konnte? Und ein noch größeres Wunder, dass sie allein es zu sehen vermochte?
    Es war ihr Gatte – Drusas Achamian.
    »Komm«, sagte er und blickte nervös im Gemach umher. Er traute dem Ort nicht. »Bitte… komm mit.«
    Durchs Zeltlabyrinth hörte sie den kleinen Moënghus heulen. Sie blinzelte ihre Tränen weg, nickte und folgte ihm, wie sie immer folgte.


    Schreie. Männer gingen in Flammen auf, brannten wie Herbstlaub und zogen ölige Bänder aus schwarzem Rauch hinter sich her. Das Donnerrollen reichte in akustische Tiefen hinab, die nur die vibrierenden Mauern zu gewahren vermochten. Die Männer, die sich ängstlich an die Innenseite der Stadtbefestigung duckten, sahen die Schatten der Zinnen über die nahen Wohnhäuser flackern.
    Geisterhafte Drachenköpfe stiegen aus den vorderen Einheiten der Scharlachspitzen auf, beugten sich vor wie Hunde, die sich nach der Hand ihres Herrn strecken, und spien brennende Fluten aus. Feuer schoss über das Mauerwerk, loderte zwischen den Zinnen, wirbelte Treppen und Rampen hinunter, rollte über die Verteidiger hinweg und verwandelte sie in wild um sich schlagende Schatten.
    Binnen Sekunden waren die Fanim, die sich auf dem Wachtturm und den angrenzenden Mauern gedrängt hatten, tot. Steine bekamen Risse und barsten. Die Basteien des Tors bogen sich, und Männer zuckten zusammen, als sähen sie Knie nach hinten einsinken. Die Türme sahen schief aus dem Rauch und stürzten dann ins Dunkel. Eine gewaltige Staubwolke rollte über die Hexenmeister und ihr unheimliches Lied hinweg.
    Endlich marschierten sie, die Scharlachspitzen.
    Kellhus stieg zwischen im Boden begrabenen Ruinen hinab.
    Am Fuß der Treppe entdeckte er eine Laterne aus Horn und durchsichtigem Papier, die weder aus Kian noch aus Nilnamesh stammen konnte. Als er sie anzündete, gab sie ein diffuses, orangefarbenes Licht…
    Diese Gänge waren nicht von Menschenhand geschaffen.
    Zugluft strich an ihm vorbei und murmelte Geheimnisse. Seine Seele griff aus, berechnete Wahrscheinlichkeiten und verwandelte die Ergebnisse in räumliche Vorstellungen. Ringsum krochen Tunnel immer weiter in die eingekerkerte Finsternis.
    Wie sehr es hier den Hunderttausend Gängen, wie sehr es Ishuäl ähnelte!
    Kellhus arbeitete sich weiter vor. Verstreutes Geröll knirschte unter seinen Füßen. Er sah, wie sich die Wände aus der kalten