Der tausendfältige Gedanke
zu sichern.
Kleine Kieslawinen rutschten unter ihm den Hang hinunter.
Er fand mit den Füßen Halt. Über ihm ragte der Baum gewaltig empor. Seine gewölbten Äste glichen Hauern und reichten weit in die Höhe. Die Wurzeln vor ihm wanden sich wie die Arme eines Tintenfischs. Irgendwann – wohl vor langer Zeit (den Spuren der Axt nach zu urteilen) – hatte jemand eine Öffnung durchs Geflecht gehauen. Als Kellhus ins Halbdunkel spähte, erkannte er Mauerwerk und eine Treppe, die in die Finsternis hinabführte.
Er drängte sich zwischen den Wurzeln hindurch und stieg in das Innere des Hügels hinunter.
Cnaiür streckte die Hand aus, um Serwë und ihren Bruder zu warnen, und brachte sein gestohlenes Pferd unvermittelt zum Stehen. Vier Geier stiegen geräuschlos in den Himmel. Auf den Hängen eines benachbarten Anstiegs hoben fünf gesattelte, aber reiterlose Pferde kurz den Kopf und grasten dann weiter.
Die drei hatten auf einem niedrigen Höhenzug über dem Gemetzel angehalten. Die Betmulla-Berge erhoben sich grau und geduckt in der Ferne, und noch immer gab es kein Zeichen von Kyudea, obwohl Serwë ihnen versicherte, dass sie der Fährte des Dunyain genau folgten. Sie könne ihn wittern, sagte sie.
Cnaiür saß ab und schritt zwischen die Leichen. Er hatte seit Tagen nicht geschlafen, doch die Erschöpfung in seinen Gliedern schien etwas Abstraktes zu sein und ließ sich so leicht ignorieren wie die Beweisführung eines Philosophen. Seit seiner Diskussion mit dem Hexenmeister der Mandati hatte ihn eine seltsame Intensität ergriffen – eine Energie, die er nur als Hass begreifen konnte.
»Er ist unterwegs nach Kyudea«, hatte der fette Narr schließlich gesagt.
»Nach Kyudea?«
»Ja, Shimehs zerstörte Schwesterstadt. Sie liegt im Südwesten, nahe den Quellen des Jeshimal.«
»Hat er dir gesagt, warum?«
»Niemand weiß das… Die meisten denken, er sei gegangen, um mit Gott zu sprechen.«
»Warum denken sie das?«
»Weil er gesagt hat, er gehe zum Haus seines Vaters.«
»Es sind Kidruhil«, rief Cnaiür nun nach hinten. »Vermutlich waren sie auf der Jagd nach uns.«
Er musterte die Spuren auf dem Boden und beugte sich dann vor, um einige der Leichen zu untersuchen. Einem drückte er seine Handknöchel an die Wange, um die Wärme abzuschätzen. Die Hautkundschafter sahen ihm gelassen zu und beobachteten irritierend unverhohlen, wie er zurückkam und wieder aufsaß.
»Der Dunyain hat sie überrascht«, sagte er.
Wie lange hatte er sich nach diesem Moment gesehnt? Wie oft hatte er sich fruchtlos den Kopf zerbrochen?
Ich werde sie beide töten.
»Bist du sicher, dass er es war?«, fragte Serwës Bruder. »Wir wittern andere… Fanim.«
»Er war es«, sagte Cnaiür mit müdem Ekel. »Nur einer hatte Zeit, seine Waffe zu ziehen.«
Sie begriff, dass es der Krieg war, der die Welt in die Hände der Männer hatte fallen lassen.
Sie waren vor ihr auf die Knie gesunken, die Männer des Stoßzahns, und hatten sie um ihren Segen angefleht. »Shimeh«, hatte einer gerufen, »ich werde für Shimeh sterben!« Und Esmenet hatte sie gesegnet, obwohl sie sich dabei töricht und keineswegs wie der Götze gefühlt hatte, den sie aus ihr zu machen schienen. Sie hatte sie gesegnet und Worte gesagt, die ihnen die Sicherheit geben würden, die sie so verzweifelt brauchten – sei es, um zu sterben, sei es, um zu töten. Mit einer Stimme, deren besänftigender und doch provozierender Klang ihr so vertraut war, hatte sie etwas wiederholt, das sie Kellhus hatte sagen hören: »Wer den Tod nicht fürchtet, wird ewig leben.« Sie hatte ihnen über die Wangen gestrichen und gelächelt, doch ihr Herz war voll Abscheu gewesen.
Wie sie sich mit scheppernden Waffen und Rüstungen um sie gedrängt hatten! Alle hatten die Hand nach ihr ausgestreckt und nach Berührung verlangt – fast so wie in Esmenets früherem Leben.
Und dann hatten sie sie mit den Sklaven und den Kranken zurückgelassen.
Einige hatten sie die Hure von Sumna genannt, aber begeistert, nicht verdammend – als müsste man erst so tief fallen, um so hoch erhoben zu werden. Ihre Namensvetterin aus der Chronik des Stoßzahns kam ihr in den Sinn, jene Esmenet also, die die Gattin Angeshraëls und die Tochter Shamanets gewesen war. Ob ihr, der Lebenden, das Los bevorstand, zwischen heiligen Namen erwähnt zu werden? Würde man sie »der Esmenet ähnlich« oder »die andere Esmenet« nennen, wie der Traktat es mit denen tat, die Namensvettern in der
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