Der tausendfältige Gedanke
»Du wirst tun, was er befiehlt!«
Achamian hörte den großen alten Hexenmeister zwar, beachtete ihn aber nicht. Seit Jahren verstand er seine Ordensbrüder nicht mehr. Er streckte die Hand aus. »Esmi?«
Er sah, wie sie sich mühsam aufrichtete, sah die Wölbung ihres Bauchs… Wie hatte er sie bisher nur übersehen können?
Kellhus… schaute nur zu.
»Du bist ein Ordensmann der Mandati«, stieß Nautzera bedrohlich hervor. »Ein Ordensmann der Mandati!«
»Esmi«, wiederholte Achamian, und sein Blick und seine Hand waren allein auf sie gerichtet. »Bitte…«
Das war das Einzige, was noch Bedeutung haben konnte.
»Akka«, schluchzte sie, sah sich um und schien unter den drängenden Blicken ringsum zu erschlaffen. »Ich bin die Mutter von… von…«
Also würde die Leere nicht gefüllt werden. Achamian nickte und wischte die letzte Träne ab, die er – dessen war er sich gewiss – je vergießen würde. Von nun an würde er herzlos sein: ein vollkommener Mann.
Sie kam auf ihn zu – sehnsüchtig zwar, aber auch vorsichtig und ängstlich – und umklammerte seine ausgestreckte Hand. »Die Welt, Akka. Verstehst du? Die Welt hängt in der Schwebe!«
Bis wohin wirst du es wohl bei meinem nächsten Tod bringen?
Mit einer Grausamkeit, die ihn erregte und ihm zugleich Angst machte, packte er ihr linkes Handgelenk, verdrehte es und bog es nach hinten, so dass sie die verschwommene Tätowierung auf ihrem Handrücken sah. Er stieß sie von sich weg.
Die Menge brach in Entrüstung aus; seltsamerweise aber machte niemand Anstalten, ihn zu ergreifen.
»Nein!«, kreischte Esmenet vom Boden her. »Lass ihn in Ruhe! Lass ihn! Du kennst ihn nicht! Du kennst – «
»Ich verzichte!«, rief Achamian und ließ seinen vernichtenden Blick über alle Anwesenden gleiten. »Ich verzichte auf meinen Posten als Heiliger Tutor und als Wesir am Hof von Anasûrimbor Kellhus!« Er sah Nautzera an, doch es war ihm gleich, ob der Alte hämisch grinste.
»Ich sage mich los von meinem Orden«, fuhr er fort, »denn er ist eine Ansammlung von Heuchlern und Mördern!«
»Dann verurteilst du dich zum Tod!«, rief Nautzera. »Außerhalb der Orden gibt es keine Hexenkunst! Es gibt keine – «
»Ich sage mich los von meinem Propheten!«
Vernehmliches Atmen und hektisches Getuschel erfüllten die Säulengänge des Ersten Tempels. Er wartete, bis der Lärm sich gelegt hatte, und starrte dabei den jenseitig wirkenden Anasûrimbor Kellhus an, seinen letzten Schüler.
Es war, als hätten sie einander nie gekannt.
Sein Blick landete auf Proyas, der mit seinem rechteckigen Bart so… gealtert wirkte. In seinen hübschen braunen Augen stand die verzweifelte Zuversicht, Achamian werde zur Vernunft kommen und von seinem Tun ablassen. Doch es war viel zu spät.
»Und ich sage mich los…« Er verstummte und schien mit schweifenden Leidenschaften zu kämpfen. »Ich sage mich los von meiner Frau…«
Sein Blick fiel auf Esmenet, die tief getroffen am Boden lag. Meine Frau!
»Nein«, flüsterte sie weinend. »Bitte, Akka…«
»… als einer Ehebrecherin«, fuhr er mit brechender Stimme fort, »und einer… einer…«
Mit einem Gesicht, das einer Maske aus Stahl glich, drehte er sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Die Männer des Stoßzahns sahen ihn sprachlos an, und Entrüstung funkelte in ihren Augen. Doch sie machten ihm Platz. Sie machten ihm Platz.
Dann klang eine Stimme über Esmenets Weinen hinweg…
»Achamian!«
Kellhus. Achamian ließ sich nicht dazu herab, sich umzudrehen, blieb aber stehen. Die Zukunft selbst schien sich unerklärlich gegen ihn zu stemmen – als hätte er ein Joch um den Hals oder eine Speerspitze am Rückgrat.
»Wenn du das nächste Mal vor mir erscheinst«, sagte der Aspektkaiser mit tiefer Stimme, in der unmenschliche Obertöne lagen, »wirst du niederknien, Drusas Achamian.«
Auf blutenden Füßen humpelte der Zauberer davon.
Anhang
WAS BISHER GESCHAH…
Die Erste Apokalypse zerstörte die großen Norsirai-Nationen des Nordens. Nur der Süden, die Ketyai-Nationen im Gebiet der Drei Meere mithin, überlebte den Angriff des Nicht-Gottes Mog-Pharau und seiner Rathgeber, also seiner Generäle und Magier. Im Laufe der Jahrhunderte allerdings vergaßen die Bewohner des Gebiets der Drei Meere – wie Menschen es eben tun – die von ihren Vorfahren erlittenen Schrecken.
Große Reiche kamen und gingen: Kyraneas, Shir, Cenei. Der Letzte Prophet, Inri Sejenus, deutete den
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