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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Verteidigung überwand. Offenbar war er zu langsam gewesen.
    Das vierte Mal rastete er, als die mächtigen Brecher ihn zwangen, sich vom Strand zu entfernen. Er war an einen Gezeitentümpel gekommen, dessen windgeschützte Oberfläche aus Glas zu sein schien, und kniete nieder, um sein Spiegelbild zu betrachten. Eine rußige Zeichnung der beiden Krummschwerter, die er wohl seinen Pflegern verdankte, prangte auf seiner Stirn – ein Zauber vielleicht, ein Segen oder eine Art Gebet.
    Irgendwie hatte er keine Lust, sie zu entfernen, und wusch sich nur den verfilzten Bart.
    Als das Wasser sich wieder beruhigt hatte, musterte er sein Spiegelbild erneut – die dunklen, recht kleinen Augen und den ins Gesicht wuchernden Bart mit den fünf weißen Strähnen. Er legte die gespreizte Hand aufs Wasser und beobachtete, wie sein Bild – eine schwerelose, reine Oberfläche – sich zitternd um seine Finger krümmte. Wie kam es nur, dass der Mensch so intensiv zu fühlen vermochte?
    Er wandte sich ins grasige Landesinnere und wich den Disteln sorgfältig aus. Obwohl der Wind nicht zu wehen aufhörte – die Schatten, die er über die wellige Weite trieb, zeigten seine Böen –, schien er den Hexenmeister immer mehr zu verfehlen, wie es eben ist, wenn man die Küste verlässt. Die Hitze wuchernden Grüns umgab ihn. Insekten schwirrten ziellos, aber punktgenau hin und her. Einmal scheuchte er eine Drossel auf und stieß beinahe einen Schrei aus, als sie mit lautem Flügelschlagen aus dem Gras zu seinen Füßen flatterte.
    Das Gelände stieg an, und er querte einen breiten Streifen zertrampelten Bodens. Hunderte von Reitern mussten hier vorbeigekommen sein. Also war er gar nicht so weit weg.
    Er überschritt den Hügel, an dessen Hang die Mausoleen der alten Könige von Amoteu in der Sonne lagen – oder das, was von ihnen noch übrig war. Der durch die Einwirkung magischer Blitze zu Glas verbrannte Sand schnitt in seine nackten Füße.
    Er querte die nieder getrampelten Flächen, auf denen sich das Lager des Heiligen Kriegs befunden hatte.
    Er kam über das Schlachtfeld und am eingestürzten Aquädukt vorbei, wo Gestank und welkes Gras die Stellen markierten, an denen Männer und Pferde gefallen waren.
    Er schritt durch die Trümmer des Massus-Tors und entdeckte auf einem umgedrehten Mauerrest eine mit schwarzen Kacheln in den weißen Hintergrund eingelegte Iris.
    Er suchte sich einen Weg durch die zerstörten Straßen und blieb stehen, um einen Ordensmann der Scharlachspitzen zu mustern, der zu Salz erstarrt aus den Trümmern ragte.
    Er stieg die große Treppe zum Juterum hinauf, machte aber an keiner Pilgerstation halt.
    Er begegnete niemandem, bis er die Westtore der Heterin-Mauer erreichte, wo zwei Männer aus Conriya, die ihm vage bekannt vorkamen, Wache hielten. »Wahrheit leuchtet!«, riefen sie, fielen vor ihm auf die Knie und erflehten seinen Segen.
    Er aber spuckte auf sie.
    Als er zum Ersten Tempel hinaufstieg, blickte er auf die noch immer rauchenden Überreste des Ctesarat, des Gotteshauses der Cishaurim. Es bedeutete ihm nichts.
    Der Erste Tempel ragte ganz in der Nähe auf. Seine kreisrunde Fassade thronte weiß über den Inrithi, die sich zu Tausenden davor versammelt hatten. Die Sonne stand am türkisfarbenen Himmel, und Dinge und Menschen warfen scharfe Schatten. Nur der Nagel des Himmels glitzerte wie etwas Verlorenes und Kostbares, das man flüchtig in der Tiefe des Meeres sieht.
    Schwer auf seinen Stab gestützt, erstieg Achamian den Rest der Anhöhe. Die Männer des Stoßzahns wichen ausnahmslos vor ihm zur Seite. Er war bedeutender, weit bedeutender als sie, denn als Lehrer ihres Kriegerpropheten stand er nahe beim Mittelpunkt der Welt. Er ging entschlossenen Schrittes an ihnen vorbei und kümmerte sich nicht um ihr Flehen. Schließlich blieb er auf der obersten Stufe stehen, funkelte sie wütend an und lachte.
    Dann wandte er ihnen den Rücken zu, humpelte ins luftige Halbdunkel und kam an den Segnungstafeln vorbei, die von den Querbalken hingen. Wie anders es hier aussieht, dachte er, als im Zwielicht der Tempel von Sumna, wo alles grell bemalt ist. Der Marmor linderte den Schmerz seiner blutenden Füße.
    Alle knieten, als er durch den äußeren Säulenring humpelte. Während er sich durch die murmelnden Inrithi drängte, dachte er an die seltsame… Leere, die sich in ihm geöffnet hatte. Er stand aufrecht da und atmete – also schlug sein Herz noch immer in der Brust. Aber er spürte es nicht klopfen.

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