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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Er dachte an die Läuse, die seine Kopfhaut bald verlassen würden.
    Dann vernahm er in unerbittlichem Tonfall vorgetragene Bekanntmachungen von der Sorte, die so viele Menschen vor Ehrfurcht zittern ließ. Und er erkannte die Stimme von Maithanet, dem Vorsteher der Tausend Tempel. Fast sah er ihn durch den konzentrischen Säulenwald vor sich.
    »Erhebt Euch, Anasûrimbor Kellhus, denn alle Macht liegt nun bei Euch…«
    Es war kurz still. Nur leises Weinen war zu hören.
    »Seht den Kriegerpropheten!«, rief der von Säulen verdeckte Tempelvorsteher. »Den König der Kûniüri! Den Aspektkaiser des Gebiets der Drei Meere!«
    Wie ein Hieb seines Vaters raubten diese Worte Achamian den Atem. Während die Männer des Stoßzahns aufsprangen und so verzückte wie schmeichlerische Rufe ausstießen, taumelte er an eine weiße Säule und spürte die Kühle gemeißelter Figuren an der Wange.
    Was hatte es mit der Leere auf sich, die ihn so verzehrte? Was war das für ein Verlangen, das der Trauer so ähnlich war?
    Sie lassen uns lieben! Sie lassen uns lieben!
    Erst nach einiger Zeit merkte er, dass Kellhus sprach. Achamian spürte sich unausweichlich angezogen. Die in Seidenkhalats ihrer Feinde gewandeten Lehnsmänner und Ritter wichen ihm aus und starrten ihn an, als hätte er Lepra.
    »Mit mir«, erklärte Kellhus, »ist alles umgeschrieben. Eure Bücher, Gleichnisse und Gebete – all eure Bräuche sind nun nichts weiter als wundersame Dinge aus der Kindheit. Zu lange hat die Wahrheit in den gewöhnlichen Herzen der Menschen geschmachtet. Was ihr Tradition nennt, ist bloß eine Übung – die Frucht eurer Eitelkeit, eurer Lüste, eurer Furcht und eures Hasses.
    Mit mir werden alle Seelen einen ehrlicheren Halt finden. Mit mir ist die Welt neu geboren!«
    Jahr Eins.
    Achamian humpelte weiter vor. Bei jedem Schritt vibrierte der Stab in seiner Handfläche. Er hatte einen Riss bekommen… wie alles in dieser elenden Welt. »Die alte Welt ist tot!«, rief er. »Ist es das, was du sagst, Prophet?«
    Von dem vernehmlichen Einatmen abgesehen, war es ganz still.
    Die letzten Gestalten, die ihm die Sicht nahmen, traten eher erstaunt als empört beiseite… Achamian blinzelte und hatte Mühe, das Vertraute von Prunk und Pracht zu trennen.
    Er stand vor dem heiligen Hofstaat des Aspektkaisers.
    Er sah Maithanet in den goldenen Gewändern seines Amtes. Er sah Proyas, Saubon und andere Herren des Heiligen Kriegs, die überlebt hatten und den neuen Adel bildeten, der nicht mehr so zahlreich, aber strahlender als der alte war. Er sah die Nascenti und hohe Mitglieder des Ministrats – der Organisation also, die die Orthodoxen bekehren sollte – in den kostbaren Gewändern ihres betrügerischen Standes. Er sah Nautzera und das Quorum im Purpur und Gold der feinsten Festgewänder der Mandati schillern. Er sah sogar Iyokus bleich wie Glas in Eleäzaras’ Hochmeistergewand dastehen.
    Er sah Esmenet. Ihr Mund stand offen, und in ihren geschminkten Augen leuchteten quellende Tränen… Erneut wirkte sie wie eine Kaiserin aus Nilnamesh.
    Serwë sah er nicht – so wenig wie Cnaiür und Conphas.
    Auch Xinemus war nirgendwo zu entdecken.
    Doch er sah Kellhus wie einen Löwen vor einem großen, in Weiß und Gold gehaltenen Zirkumfix sitzen. Sein Haar leuchtete auf seinen Schultern, und sein flachsfarbener Bart war geflochten. Er sah ihn die Netze der Zukunft einholen, wie der Scylvendi es gesagt hatte: indem er Menschen und Dinge abwog, Theorien und Kategorien bildete, Phänomene durchdrang…
    Er sah den Dunyain.
    Kellhus nickte ihm zu, und sein Stirnrunzeln war liebenswert und verblüfft. »Das ist es, was ich verfüge, Akka. Die alte Welt ist tot.«
    Auf seinen Stab gestützt, überblickte Achamian die erstaunte Versammlung. »Dann sprichst du also«, sagte er ohne Eile oder Verbitterung, »von einer Apokalypse.«
    »So einfach ist es nicht. Das weißt du ja selbst…« Seine Stimme, seine Miene – alles an ihm strahlte Duldsamkeit und Wohlwollen aus. Er hob einladend die Hand und wies auf den Platz zu seiner Rechten. »Komm… setz dich wieder an meine Seite.«
    Da schrie Esmenet auf, rannte vom Podium auf Achamian zu, geriet ins Stolpern und fiel weinend hin… Mit auf den Boden gestützten Händen hob sie ihm hoffnungslos und flehend das Gesicht entgegen.
    »Nein«, sagte Achamian zu Kellhus. »Ich bin wegen meiner Frau zurückgekehrt. Allein ihretwegen.«
    Einen Moment lang war es überwältigend still.
    »Lächerlich!«, rief Nautzera.

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