Der tausendfältige Gedanke
Herkunft der Dûnyain im Dunkeln liegt (viele halten sie für Nachkommen der ekstatischen Sekten, die sich in der Zeit vor der Apokalypse überall im Alten Norden bildeten), ist ihr Glaubenssystem einzigartig und hat schon manchen zu der Annahme geführt, ihr Antrieb müsse eher philosophischer als im herkömmlichen Sinne religiöser Natur sein.
Viele Überzeugungen der Dûnyain ergeben sich aus ihrer Deutung dessen, was sie für ihre grundlegenden Prinzipien halten. Der Grundsatz der Ereignisabfolge (mitunter auch Grundsatz des Vorher und Nachher genannt) besagt, auf Erden bestimme das Vergangene das Zukünftige, und zwar ausnahmslos. Der Grundsatz vom Vorrang der Vernunft besagt, der Logos – oder die Vernunft – liege außerhalb der Welt (allerdings nur in einem formalen, nicht in einem ontologischen Sinn). Der Grundsatz der Epistemologie besagt, wer sich vermittels des Logos über die Vergangenheit kundig gemacht habe, könne maßgeblichen Einfluss auf die Zukunft nehmen.
Aus dem Grundsatz der Ereignisabfolge ergibt sich, dass jedes Denken, das in den Kreislauf des Vorher und Nachher fällt, ebenfalls von der Vergangenheit bestimmt ist. Darum halten die Dunyain den Willen für eine Illusion, ja für ein Konstrukt, das die Unfähigkeit der Seele zeigt, das Vorausgegangene wahrzunehmen. In der Weltsicht der Dûnyain ist die Seele ein Teil der Welt und darum ebenso getrieben durch frühere Ereignisse wie alles andere (das steht in deutlichem Kontrast zum vorherrschenden Denken im Gebiet der Drei Meere und im Alten Norden, wo die Seele – um es mit Ajencis zu sagen – als das gilt, »was allem vorausgeht«).
Nach Ansicht der Dûnyain besitzen die Menschen also keine »Seele, die sich selbst bewegt«, sondern müssen sie erst ausbilden. Jede Seele, so behaupten sie, strebe von sich aus danach, ihr eigener Beweger zu sein, um dem Kreislauf des Vorher und Nachher zu entkommen; jede Seele versuche, die Welt zu erkennen, um das Hamsterrad der Ereignisse zu verlassen. Doch eine Fülle von Faktoren macht die direkte Flucht unmöglich. Die Seele, mit der die Menschen auf die Welt kommen, ist zu stumpf und zu sehr von animalischem Begehren getrübt, um nicht Sklavin der Vergangenheit zu sein. Den Dûnyain geht es also eigentlich nur darum, diese Grenzen zu überwinden und ihre eigenen Beweger zu werden – mithin das Absolute zu erlangen, eine seelische Verfassung, die frei von jeder Abrichtung ist.
Anders als die exotischen Sekten der Nilnameshi aber, die sich verschiedenen anderen Formen der »Aufklärung« verschrieben haben, sind die Dûnyain nicht so naiv anzunehmen, dies sei im Laufe eines einzelnen Lebens zu erreichen. Sie halten das Ganze eher für einen Prozess, der sich über viele Generationen hinzieht. Schon sehr früh erkannten sie, dass das Werkzeug selbst – die Seele also – beschädigt war. Daher beschlossen sie Maßnahmen, bei denen es darum ging, den Verstand und die Leidenschaftslosigkeit besonders zu fördern. Die gesamte Sekte wurde also zu einer Art Experiment im Verborgenen, bei dem es darum ging, immer mehr Kontrolle zu gewinnen, wobei jede Generation die nächste bis an die Grenzen ihrer Fähigkeiten unterwies. Diesem Vorgehen lag die Idee zugrunde, auf diesem Wege im Laufe von Jahrtausenden Seelen hervorzubringen, die sich immer weiter vom Kreislauf des Vorher und Nachher würden entfernen können. Die Dunyain hofften, schließlich Seelen zu erschaffen, die für den Logos ganz und gar durchlässig und fähig wären, sich vermittels der Vernunft aller überlieferten Bedingungen souverän genug zu bedienen, um sie im Sinne einer offenen Zukunft zu gestalten.
Dûnyanisch – die Sprache der Dûnyain, die dem ursprünglichen Kûniürisch, aus dem sie sich entwickelt hat, sehr ähnlich ist.
E
Eämnor – ein untergegangener Staat der Weißen Norsirai des Alten Nordens. Die Wurzeln Eämnors reichen bis zu den Tagen von Aulyanau dem Eroberer und in die Zeit des Jochs der Cond zurück. 927 eroberte Aulyanau die Festung Ara-Etrith (»Neu-Etrith«) und siedelte aus Begeisterung über die anarkanen Eigenschaften des Berges Ankulakai mehrere Cond-Stämme in der Nachbarschaft an. Die Stämme entwickelten sich gut, gaben ihre nomadische Lebensweise unter dem Einfluss der nahegelegenen Städte am Aumris rasch auf und passten sich deren Kultur so erfolgreich an, dass die Scintya sie in der Zeit des nach ihnen benannten Jochs (1228-1381) für Norsirai hielten.
Eämnor ging aus dem Joch der Scintya als
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