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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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getötet.«
    Cnaiür schnaubte. »Nichts bindet mich! An niemanden!«
    Mit vogelhafter Neugier reckte das Geschöpf sein winziges Gesicht zur Seite.
    »Aber die Vergangenheit bindet uns alle, Scylvendi, wie der Bogen den Flug des Pfeils bindet. Wir alle sind eingelegt, gezielt und abgeschossen worden. Nun kommt es nur noch darauf an, wo wir landen… darauf, ob wir ins Schwarze treffen.«
    Er bekam keine Luft mehr. Schon das Zusehen schien eine Marter zu sein – als klapperte alles Wirkliche mit einer Million Zähnen. Warum konnte nichts einfach sein? Und rein? Warum musste die Welt ihm fortwährend Demütigungen auferlegen und Widerlichkeiten um ihn herum anhäufen… Wie viel musste er noch ertragen?
    »Ich weiß, wen du jagst.«
    »Lügen!«, tobte Cnaiür. »Nichts als Lügen!«
    »Er ist einst zu dir gekommen, nicht wahr? Der Vater des Kriegerpropheten.« Belustigung glitt über das winzige Gesicht des Geschöpfs. »Der Dunyain.«
    Der Häuptling der Utemot sah das Wesen an. Widersprüchliche Empfindungen betäubten sein Denken: Verwirrung, Wut, Hoffnung… Dann endlich erinnerte er sich des einzig verbliebenen Wegs, des einzig wahren Wegs, den sein Herz die ganze Zeit gekannt hatte. Er erinnerte sich der einzigen Gewissheit.
    Des Hasses.
    Er wurde sehr ruhig. »Die Jagd ist vorbei«, sagte er. »Morgen zieht der Heilige Krieg nach Xerash und Amoteu. Ich muss zurückbleiben.«
    »Du bist verschoben worden, mehr nicht. Beim Benjuka lässt jeder Zug eine neue Regel erkennen.« Das kleine Gesicht sah ihn an, und der kahle Schädel leuchtete unter dem weißen Mond. »Wir sind diese neue Regel, Scylvendi.«
    Winzige, unsagbar alte Augen musterten ihn und vermittelten ihm eine Ahnung davon, welche Macht in den Adern, dem Herzen und den Knochen dieses kleinen Wesens saß.
    »Nicht einmal die Toten entkommen dem Spiel.«
     
     
    Als Achamian Xinemus in seinen Gemächern aufsuchte, war der Marschall betrunkener denn je.
    Sein Husten klang wie Kies, der auf die hölzerne Ladefläche eines Karrens prasselt. »Hast du es getan?«, fragte er.
    »Ja…«, antwortete der Hexenmeister.
    »Gut, sehr gut. Bist du verletzt worden? Hat er dir wehgetan?«
    »Nein.«
    »Hast du sie?«
    Achamian hielt inne. Es beunruhigte ihn, dass Xinemus nicht auch seine zweite Antwort kommentiert hatte. Will er womöglich, dass ich leide?
    »Hast du sie?«, rief der Marschall.
    »Ja.«
    »Gut… sehr gut!« Xinemus sprang mit jener starren Ziellosigkeit auf, mit der er alles zu tun schien, seit er keine Augen mehr hatte. »Gib sie mir!«
    Er hatte gebrüllt, als sei Achamian ein Ritter aus Attrempus.
    »Ich…« Achamian schluckte. »Ich verstehe nicht…«
    »Lass sie hier… Und lass mich allein!«
    »Xin… erklär mir das bitte!«
    »Raus!«
    Der Schrei war so markerschütternd, dass Achamian zusammenfuhr.
    »Gut«, murmelte er und ging zur Tür. Sein Magen revoltierte, als sei er auf hoher See. »Gut…« Er riss die Tür auf, blieb aber einfach einen Moment stehen und knallte sie dann vor sich zu, als sei er wütend gegangen. Atemlos stand er da und sah seinen Freund – mit der Linken durch die Luft tastend, mit der Rechten das blutgetränkte Tuch umklammernd – zur Westwand gehen.
    »Endlich«, murmelte Xinemus leise, und Achamian vermochte nicht zu entscheiden, ob er schluchzte oder lachte. »Endlich…«
    Er drückte die Rechte an die Mauer, bewegte sich nach links und hinterließ blutige Fingerabdrücke auf der tiefblauen Vertäfelung und der Hirtenszene aus Nilnamesh. Als er den Spiegel erreicht hatte, blieb er stehen.
    Seine Finger tänzelten über den Elfenbeinrahmen, während er sich in Positur stellte. Er wurde sehr still, und Achamian fürchtete schon, der Marschall könnte den Atem hören, der ihm unerträglich laut in den Ohren keuchte. Eine Zeit lang schien Xinemus in die leeren Höhlen zu starren, in denen seine Augen einst gelacht oder vor Zorn gesprüht hatten. Sein blindes Mustern hatte etwas Sehnsüchtiges.
    Entsetzt sah Achamian, wie er in dem Tuch herumnestelte und eine Hand an jede Augenhöhle führte. Als er die Hände wegzog, starrten die Augen von Iyokus aus seinem hochroten Gesicht.
    Wände und Decke schienen zu schwanken.
    »Öffnet euch!«, jammerte der Marschall von Attrempus. Er warf einen toten und blutigen Blick in den Raum und verweilte kurz auf Achamian, dem fast das Herz stehen blieb. »Öffnet euch!«
    Dann begann er, um sich zu schlagen.
    Achamian glitt über die Schwelle und floh.
    Im Dunkeln wiegte

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