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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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aber hatten sich vervielfältigt und vertieft…
    Iyokus schrie die Worte heraus, und nun leuchtete etwas auf, das heller war als der Blitz: reine Gewalt, die nicht durch Bilder oder Deutungen gemildert war.
    Geometrische Figuren fuhren wie Sensen durch die Luft. Blendend weiße Parabeln beschrieben vollendete Kurven und strömten von überallher auf seinen Abwehrzauber zu. Die geisterhaft vorhandenen Mauern erzitterten, bekamen Risse und zerbarsten wie Tonschiefer unter einem Hammer.
    Eine strahlend helle Explosion, dann –
    Unbekümmert um die Dunkelheit, ritt der Häuptling der Utemot durchs Tor der Hörner in die Hügel von Enathpaneah. Er legte seinem Pferd – einem Rappen aus Eumarna, der ihm nach der Vernichtung der Streitmacht des Padirajah zugeteilt worden war – Fußfesseln an und entfachte auf einem hohen Felsvorsprung, von dem aus sich die Stadt übersehen ließ, ein Feuer. Die Leere in seinem Magen war ihm in die Brust gekrochen, hatte sich dort in einem gleichsam geronnenen Zustand festgekrallt und glich nun der Krähe, von der seine verrückte Großmutter immer behauptet hatte, sie lebe in ihrem Körper. Er legte sich rücklings auf einen noch warmen Felsen, streckte die Arme aus und bewegte sie langsam hin und her, sodass seine Fingerspitzen über das zitternde Gras strichen. Er genoss die Wärme und atmete tief durch. Allmählich hörte die Krähe auf zu flattern.
    So viele Sterne.
    Er war nicht länger ein Scylvendi. Er war mehr. Es gab keinen Gedanken, den er nicht denken, keine Tat, die er nicht tun, keine Lippen, die er nicht küssen konnte… Nichts war verboten.
    Den Blick auf die unendlichen Felder der Finsternis gerichtet, dämmerte er ein und träumte, er sei mit Serwë ans Zirkumfix gebunden und drücke sich an sie… Keine Vereinigung schien inniger sein zu können. »Du bist verrückt«, flüsterte sie ihm drängend zu.
    »Ich bin dein«, keuchte er in einer fremden Sprache. »Du bist der einzige Weg, der mir geblieben ist.«
    Mit klaffendem Grinsen sagte Serwës Leiche: »Aber ich bin tot.«
    Diese Worte trafen ihn wie ein Stein und rissen ihn aus dem Schlaf. Halbnackt und zusammengerollt lag er im grasigen Kies. Betäubt rappelte er sich auf und wischte sich wie ein Betrunkener kleine Steine und Spreu von der Haut. Was waren das für Träume?
    Dann sah er sie.
    In einfachem Leinenhemd und mit orangefarbener, geschmeidiger und makelloser Haut stand sie über dem Feuer und wirkte wie eine aus den Flammen gezauberte Göttin der Inrithi. In ihren Augen leuchteten winzige Feuersbrünste. Ein Meer von Haar umgab ihr Kinn und ihre Wangen. Sklavenblondes Haar…
    Serwë.
    Cnaiür schüttelte Kopf und Mähne und kratzte sich die Wangen. Er öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton über die Lippen. Der Wind war eisig.
    Serwë.
    Sie lächelte und sprang in die Dunkelheit, die sie umgab.
    Fluchend setzte er ihr nach und war sich gewiss, nichts zu finden. Er hielt an, wo sie gestanden hatte, und trat durchs Gras, als suchte er eine verlorene Münze oder Waffe. Ihr Fußabdruck ließ ihn in die Knie gehen.
    »Serwë?«, rief er, spähte in die Dunkelheit und rappelte sich wieder hoch. »Serwë!«
    Dann sah er sie wieder. Sie sprang von Fels zu Fels den Hang hinunter und glänzte silbern im Mondlicht. Plötzlich schien die Welt steil zu sein und nur aus Felswänden zu bestehen. Er sah ihren Umriss zwischen zwei faustförmigen Steinen verschwinden. Caraskand – ein Labyrinth aus Türkis und Schwarz – lag in der Ferne unter ihr ausgebreitet. Er taumelte vorwärts, rannte die finsteren Hänge hinunter und sprang ins Leere. Er krachte in einige Zwergpalmen und stolperte zwischen bizarren Ästen herum. Ein Drosselschwarm stob kreischend in den schwarzen Himmel. Er rollte auf die Füße und rannte weiter, und es schien, als atmete er nicht und als stünde sein Herz still. Geradezu magisch fanden seine Füße über den dunklen Boden.
    »Serwë!«
    Er blieb zwischen den beiden Felsen stehen und überflog das mondbeschienene Gelände. Dal Ihre gertenschlanke Gestalt jagte wie ein Hase über die Ausläufer des Hügels.
    Frühlingsgras strich ihm über die nackten Schienbeine, als er ihr mit riesigen Schritten nachhetzte. Dann rutschte er über Schotter und sprang über Spalten, die unvermittelt aufrissen. Gebückt stürzte er ihrer fernen Gestalt nach, und seine narbenübersäten Arme skandierten sein Spurten mit rhythmischem Vor und Zurück. Er keuchte schwer, und Speichel lief ihm über Kinn und

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