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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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geschmückte Mauer und erblickte Pisathulas, den riesigen Eunuchen seiner Mutter, der im Vorzimmer stand und seine Gardisten überragte. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob sie es mit dem öligen Wal trieb. Zwar sollte er sich Gedanken über ihre Beweggründe machen, doch in letzter Zeit war sie ihm so… durchschaubar erschienen. Außerdem war er gerade in Stimmung. Hätte sie ihn nur etwas später bedrängt, wäre er sicher… unpässlich gewesen.
    Doch, für eine alte Hexe sah sie wunderschön aus! Ein in Perlmutt gearbeiteter Flügelkopfschmuck zierte ihr gefärbtes Haar, von dem ein Schleier aus winzigen Silberketten bis knapp über die geschminkten Brauen hing. Ihr Kleid, das ihr dank goldener Bänder eng anlag, war einfach und traditionell, doch die bedruckte blaue Seide dürfte ihn so viel gekostet haben wie eine Kriegsgaleere. Er wusste, dass er seinen weinseligen Blick loswerden musste, doch sie wirkte eher geschmeidig als drahtig…
    Wie lange war das nun her?
    »Gottgleicher Kaiser«, sagte sie, als sie die letzte Stufe erklomm, und senkte den Kopf in makelloser Erfüllung der Gebote des Jnan.
    Diese untypische Respektsbekundung entwaffnete Xerius so, dass er einen Moment lang sprachlos dastand. »Mutter«, sagte er vorsichtig. Bissige Köter, die einem die Hand beschnuppern, haben Hunger – großen Hunger.
    »Ist der Kaiserliche Ordensmann hier gewesen, um sich mit dir zu treffen?«
    »Thassius, ja… Er muss beim Herausgehen an dir vorbeigekommen sein.«
    »Nicht Cememketri?«
    Xerius schnaubte. »Was gibt’s, Mutter?«
    »Du hast etwas erfahren«, sagte sie schrill. »Conphas hat eine Nachricht geschickt.«
    »Pah!« Schmatzend wandte er sich ab. Sie war eine Hündin, die dauernd über ihrem Napf bellte.
    »Ich habe ihn aufgezogen, Xerius! Er war mein Mündel – weit mehr als deins! Ich habe ein Recht darauf, zu wissen, was vorgeht. Das verdiene ich.«
    Xerius blieb stehen und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Seltsam, dachte er, wie dieselben Worte mich mal zur Raserei bringen, mal mein Wohlgefallen erregen können. Aber auf meine Launen läuft es letztlich wohl immer hinaus. Er sah ihr ins Gesicht und war erstaunt, wie leuchtend und jung ihre Augen im Lampenlicht wirkten. Er mochte diese Laune…
    »Sie wissen Bescheid«, sagte er. »Dieser Schwindler, dieser… Kriegerprophet – wie sie ihn nennen – hat Conphas und damit auch mich beschuldigt, den Verrat des Heiligen Kriegs zu planen. Kannst du dir das vorstellen?«
    Sie wirkte nicht überrascht. Hat sie vielleicht unsere Pläne verraten?, überlegte Xerius plötzlich. Immerhin besaß sie einen aus männlichen und weiblichen Elementen seltsam zusammengesetzten Intellekt, war von einem überzogenen Bedürfnis nach Anerkennung und einem ebenso überzogenen Sicherheitsbedürfnis besessen und sah deshalb überall Unbesonnenheit und Feigheit. Vor allem bei ihrem Sohn.
    »Was ist geschehen?«, fragte sie mit der forcierten Munterkeit echter Besorgnis.
    Nein, man durfte ihren heißgeliebten Neffen nicht vergessen.
    »Ctphas wurde vom Heiligen Krieg ausgeschlossen. Er und der Rest seiner Truppen sollen in Joktha interniert werden und dort auf den Rücktransport nach Nansur warten.«
    »Gut«, sagte Istriya nickend. »Dann hat dein Irrsinn ein Ende.«
    Xerius lachte. »Mein Irrsinn, Mutter?« Er schenkte ihr ein Lächeln, dessen Echtheit es nur noch schneidender machte. »Oder der von Conphas?«
    Die Kaiserin grinste höhnisch. »Was soll das denn heißen, mein lieber Sohn?«
    Die Verheerungen des Alters. Er hatte sie bei den Zeitgenossen seines Vaters erlebt, hatte Schädel gesehen, die ausgekratzt waren wie Venusmuscheln, so dass die altersschwachen Körper regelrecht kraftvoll wirkten – jedenfalls im Vergleich zu den verwirrten Seelen. Xerius unterdrückte ein Schaudern. Mit Worten zu spielen und intellektuell zu brillieren, war die Domäne seiner Mutter gewesen. Wann war sie bloß so ins Hintertreffen geraten?
    Und doch…
    »Es bedeutet, Mutter, dass Conphas ungehindert operieren kann.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe ihn nicht zurückgerufen.«
    »Was sagst du da, Xerius? Jetzt wissen sie doch Bescheid… Sie wissen, was du vorhast. Das wäre Irrsinn!«
    Er sah sie an und fragte sich, wie sie es nach so vielen Jahren immer noch fertigbrachte.
    »Stimmt. Die Hohen Herren sehen das sicher ähnlich.«
    Wie konnte eine alte Vettel so jungfräulich wirken?
    Sie schloss die langbewimperten Lider und lächelte auf ihre kokette Art.

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