Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
Vom Netzwerk:
Ausnahmsweise schien das kein leerer Hohn zu sein. »Ich verstehe«, sagte sie und seufzte wie eine Liebende, die der Welt ringsum herzlich müde war.
    Noch immer konnte er sich daran erinnern, wie sie ihn in jener ersten Nacht gestreichelt hatte. In jener ersten Nacht…
    Er setzte unvermittelt seine Schale ab, drehte sich zu ihr um und schob sie auf sein Himmelbett zu. Sie schmolz unter seinem Griff zwar nicht fügsam dahin, wie es eine Sklavin wohl getan hätte, leistete aber auch keinen Widerstand. Sie roch so jung… Es würde wirklich ein Abend der Süßspeisen werden!
    »Bitte, Mutter«, hörte er sich murmeln. »Es ist schon so lange her. Ich bin so einsam gewesen… Nur du, Mutter, du allein verstehst mich.«
    Er legte sie auf die große Schwarze Sonne, mit der seine Tagesdecke bestickt war, und nestelte mit zitternden Händen an ihrem Kleid.
    »Du liebst mich wirklich«, keuchte er. »Du liebst mich…«
    Ihre geschminkten Augen hatten einen schläfrigen, ja verzückten Ausdruck bekommen. Ihre flache Brust hob und senkte sich. Irgendwie konnte er durch das Runzelgeflecht ihres maskenhaften Gesichts hindurch die heimtückische Wahrheit ihrer Schönheit erkennen. Er sah die Frau, die seinen Vater vor Eifersucht hatte wahnsinnig werden lassen und ihren Sohn in die geheimen Freuden der Sexualität eingeweiht hatte.
    »Mein süßer Sohn«, keuchte sie. »Mein Süßer…«
    Mit donnernd pochendem Herzen streichelte er ihre Waden, die sie nach Art der Ainoni rasierte, fuhr ihre noch immer glatten Schenkel hinauf und stieß dann – wie war das möglich? – auf ihr Glied…
    Er war so erstaunt, dass er nicht einmal schreien konnte. Er fuhr nur zurück, stürzte zu Boden und bewegte stumm den Mund. Sie stand auf und strich ihre Kleider glatt. Er kroch rückwärts und schaffte es, nach seinen Wachen zu rufen.
    Die Ersten, die hereingestürmt kamen, waren so verblüfft, dass sie fast auf der Stelle starben. Ein Gesicht wurde zerdrückt. Aus einer aufgeschlitzten Kehle sprudelte Blut. All das wirkte so lächerlich! Pisathulas, Istriyas riesiger Eunuch, brüllte in einer unverständlichen Sprache und versuchte, seine Herrin zu bändigen. Sie brach ihm das Genick so leicht, wie man eine Melone vom Stiel dreht.
    Dann hatte sie ein Schwert in der Hand.
    Sie sah aus wie eine Spinne, denn aus ihren zwei Beinen waren so rasch wie anmutig acht Gliedmaßen geworden. Sie tanzte und wirbelte herum. Männer brachen schreiend zusammen. Stiefel rutschten auf Blut aus. Blau tätowierte Glieder stampften auf den Boden und brachen den Toten die Knochen.
    Xerius drehte sich um und krabbelte zur Tür. Er hatte keine Angst, denn dafür hätte er verstehen müssen, was geschah. Er spürte nur das unbedingte und ursprüngliche Bedürfnis, diesen Anblick und diese Umstände hinter sich zu lassen.
    Er kämpfte sich an zwei Wächtern vorbei. Seine Beine schwammen förmlich, als er schreiend den vergoldeten Flur entlangrannte. Hausschuhe! Wer konnte schon in Hausschuhen rennen?
    Lauf! Lauf!
    Er hörte Skala Befehle brüllen und sprang die Treppe hinunter, geriet aber ins Straucheln, stürzte und zappelte wie ein gefangener Hund in einem Sack. Stöhnend und schluchzend kam er auf die Beine und rannte weiter. Was war hier los? Wo waren seine Wächter? Wandteppiche und Goldvertäfelungen drehten sich um ihn. Dann warf ihn etwas mit dem Gesicht voran auf die Marmorkacheln. Ein Schatten, dem ein Dutzend Hyänen aus der Kehle lachte, sprang auf seinen Rücken.
    Eiserne Hände legten sich um sein Gesicht. Nägel zerkratzten ihm die Wangen. Fast beiläufig knackte sein Genick. Dieses blutbespritzte und zerzauste Wesen sollte seine Mutter sein? Es gab kein –
     
     
    SUMNA, VORFRÜHLING 4112
     
    Sol sah blinzelnd auf und runzelte die Stirn. Wie früh mochte es sein?
    »Auf, auf!«, rief Hertata vom Ende der Gasse. »Maithanet kommt! Es heißt, Maithanet kommt zu den Steinkais!«
    Bei diesen Worten stand eine Hoffnung oder eine übermächtige Sehnsucht in Hertatas Augen, die Sol – obwohl er erst elf Jahre alt war – bemerkte, allerdings nicht in Worte fassen konnte. »Aber die Sklavenhändler…«
    Die Sklavenhändler waren immer ein Problem, besonders jedoch an den Steinkais, wo sie ihre Märkte abhielten. Einen jungen Waisen zu entdecken, war für einen Sklavenhändler, als würde er eine Silbermünze im Straßenstaub finden.
    »Das werden sie nicht wagenwagen! Nicht, wenn Maithanet kommt! Sonst würden sie verdammtverdammt!«
    Hertata

Weitere Kostenlose Bücher