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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Wangen. Die Nacht schien zu brüllen, doch er konnte den Vorsprung nicht aufholen. Sie rannte über gelbbraune Erde und verschwand hinter dem Rand einer terrassierten Wiese.
    »Du gehörst mir!«, schrie er.
    Caraskand rückte immer näher, bis seine gewundenen Straßen und zahllosen Dächer den Horizont füllten. Die vorderen Bastionen der Triamischen Mauern wurden immer größer und verdeckten die äußeren Viertel der Stadt. Bald waren nur noch die Höhen und ihre gewaltigen Gebäude zu sehen.
    Wieder sah er Serwë, doch schon tauchte sie in das Dunkel eines Olivenhains. Er stürmte ihr durch ein Gewirr kräftiger Äste hinterher. Als er das Wäldchen durchquert hatte, fand er sich auf dem Schlachtfeld wieder, bei den Trümmern eines ausgebrannten Stalls. Serwë war kaum mehr als ein weißer Strich, der über den Ort des Gemetzels sprang und auf die großen Haufen zuhielt, zu denen die toten Fanim aufgeworfen worden waren.
    Für einen Moment verzweifelte er. Ihm war schwindlig, und seine Glieder brannten vor Anstrengung. Er war außer Atem. Trotzdem stampfte er weiter über den zerfurchten Boden. Sein Schatten eilte ihm voraus, und er jagte ihm unermüdlich nach, sprang über tote Pferde und zertrampelte Felder aus Frühlingsklee. Zwischen den Toten verlor er sie aus den Augen, wusste aber, dass sie warten würde.
    Er schien nicht mehr zu atmen, aber er konnte die Toten riechen, als er sich den letzten gelbbraunen Hang hinauf zwang. Der Gestank wurde unerträglich und schlug ihm heftig auf den Magen.
    Er fiel auf die Knie, würgte, raffte sich auf und taumelte dann durch eine Landschaft aus Leichen. Mancherorts bedeckten sie nur den Boden und erschienen wie eine Art Makramee aus nackten Gliedern, doch anderswo waren sie zu Dutzenden, ja Hunderten aufgehäuft, und aus diesen Hügeln sickerte etwas wie Knochenöl. Mondlicht lag auf nackter Haut, ließ Zähne schimmern und fiel in zahllose aufgerissene Münder.
    Er entdeckte sie auf einer Lichtung, die von den Spuren der Wagen zerfurcht war, mit denen man die Toten aufgesammelt hatte. Sie wandte ihm den Rücken zu. Er näherte sich vorsichtig und staunte über ihre alptraumhafte Schönheit. Hinter ihr glitzerte ein Signalfeuer über den schwarzen Bäumen, das auf einem der Türme von Caraskand brannte.
    »Serwë«, keuchte er.
    Sie fuhr herum, und ihr Gesicht flog auseinander, als wären Schlangen um ihren Schädel geflochten. Er stürzte sich auf sie und warf sie zu Boden. Einen Moment lang blickte er in das Innere ihrer unerklärlichen Erscheinung und sah feuchtes, rosafarbenes Zahnfleisch bis zu ihren wilden, lidlosen Augen reichen. Sie rollten durch die Toten, bis er sich mit einem Brüllen von ihr losriss. Er torkelte rückwärts…
    Für Entsetzen blieb keine Zeit.
    Sie wirbelte in der Luft herum, und etwas krachte gegen sein Kinn. Er segelte kopfüber in die Toten, wollte sich aufrappeln, klammerte sich dabei an eine kalte Hand, stolperte über einen aufgedunsenen Torso, streckte die Hand nach hinten aus und stützte sich gegen die Leichen.
    Der Hautkundschafter beobachtete ihn und ordnete die Finger seines Gesichts zu einem neuen Antlitz. Vor Cnaiürs Augen strömte das blonde Haar wie ein stäubender Wasserfall vom Schädel und wurde davongetragen. Gerade das empfand der Häuptling seltsamerweise als das Entsetzlichste.
    Schweißgebadet erhob er sich und rang nach Atem. Er war unbewaffnet und schien jetzt erst zu begreifen, was eine Stimme in ihm von Anfang an geschrien hatte: Ich bin tot.
    Statt aber anzugreifen, sah das Wesen zum Himmel auf. Ein Flügelschlagen erklang.
    Cnaiür folgte seinem Blick und sah einen Raben im Dunkeln herabsegeln. Rechts von dem Hautkundschafter lag ein Toter schief auf einem Haufen. Seine Ellbogen waren nach hinten gebogen, der Kopf Cnaiür zugewandt. Der Vogel landete auf seiner grauen Wange und sah den Häuptling mit dem Gesicht eines Menschen an. Es war weiß und apfelgroß.
    Cnaiür fluchte und stolperte rückwärts. War für ein Gräuel war das jetzt noch?
    »Alt«, sagte das winzige Gesicht flötend. »Alt ist der Bund zwischen unseren Völkern.«
    Cnaiür blickte entsetzt. »Ich gehöre keinem Volk an«, sagte er ausdruckslos.
    Auf diese Worte folgte eine schwindelerregende Stille. Das Geschöpf musterte ihn mit vogelartiger Aufmerksamkeit, als sei es gezwungen, gewisse lange feststehende Annahmen zu prüfen.
    »Mag sein«, sagte es. »Aber mit ihm verbindet dich etwas. Sonst hättest du ihn nicht gerettet und mein Kind

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