Der tausendfältige Gedanke
sich aus dem Traum zu befreien, und obwohl seine Augen im Meer zu schwimmen schienen, erkannte er, wer da vor ihm auf der Balustrade hockte: Die Kopfhaut glänzte im Sternenlicht, die Federn waren mit schwarzer Seide durchwirkt, und die Welt hinter ihm waberte wie Rauch.
»Vogel!«, schrie er. »Böser Geist!«
Das winzige Gesicht warf ihm einen schiefen Blick zu, und seine Lider wurden schwer wie die eines träumenden Dämons.
»Am Kiyuth«, sagte der Vogel, »hat der Ikurei dich und deinen Stamm erniedrigt. Räche die Schlacht am Kiyuth!«
Ich vergesse etwas.
Wie konnten abwesende Dinge bleiben? Wie konnten sie sein?
Jedes Swazond stand für das Grinsen eines Toten, jede Nacht für die Umarmung einer Toten…
Tage vergingen, und Cnaiür versuchte verzweifelt, die Tiefen, die ringsum gähnten, zu ergründen. Conphas und seine Nansur waren seine dringendste Sorge – oder hätten es sein sollen. Proyas hatte ihm die Barone Tirnemus und Sanumnis mit ihren dreihundertsiebzig Lehnsrittern und die achtundfünfzig Überlebenden seines alten Trupps aus Shigek zur Seite gestellt. Wie alle Männer des Stoßzahns waren sie kampferprobt, verbargen aber ihre Bestürzung darüber, zurückgelassen worden zu sein, in keiner Weise. »Bedankt euch bei den Nansur«, sagte Cnaiür dann, »bedankt euch bei Conphas.« Sie waren ihren Gefangenen zahlenmäßig weit unterlegen, und Cnaiür wies sie an, den Nansur gegenüber möglichst aggressiv aufzutreten.
Als Baron Sanumnis Bedenken äußerte, erinnerte Cnaiür ihn daran, dass diese Männer sich verschworen hatten, um den Heiligen Krieg zu verraten, und dass niemand wisse, wann die Frachtschiffe des Kaisers einträfen. »Wenn sie wollen, können sie uns überwältigen«, sagte er. »Also müssen wir ihnen den Willen rauben.«
Natürlich ließ er seine wahren Motive unerwähnt. Diese Männer hatten Ikurei Conphas dem Dunyain vorgezogen… Man musste erst den Hund anketten, ehe man den Herrn umbrachte.
Ein elendes Lager war vor Jokthas Mauern aufgeschlagen worden – weit genug vom Oras entfernt, um genügend Soldaten der Nansur mit dem Holen und Verteilen von Wasser zu beschäftigen. Da er um die organisatorischen Stärken der Kaiserlichen Armee wusste, trennte Cnaiür die älteren Soldaten – die sogenannten Dreier – von den jüngeren und internierte die Offiziere in einem eigenen Lager. Weil die überwiegend adlige Reiterei und die Fußsoldaten aus dem niederen Stand miteinander verfeindet waren, hatte Cnaiür die Kidruhil auflösen und ihre Mitglieder auf die Truppen verteilen lassen. Auch sorgte er dafür, dass seine Männer aus Conriya ständig Gerüchte streuten: Conphas hätte in seiner Unterkunft geweint; die Offiziere hätten randaliert, als sie erfuhren, dass sich ihre Rationen nicht von denen der gemeinen Soldaten unterschieden – die Art von Gerüchten eben, die an der Substanz jeder Armee zehren. Obwohl sie allgemein abgetan wurden, lenkten sie doch einen Teil der unbeschäftigten Männer ab und ließen auch Wahrheiten, die mitunter an die Oberfläche kamen, mit untergehen.
Den Bedingungen der Internierung gemäß, verbot Cnaiür Conphas und seinen zweiundvierzig Vertrauten, die Stadt zu verlassen, und untersagte ihm aus naheliegenden Gründen jeden Kontakt zu seinen Soldaten. Da seine plötzliche Verhaftung einen Aufstand hätte provozieren können, gestand Cnaiür dem Kaiserneffen – obwohl er wie besessen über seine Ermordung nachdachte – jede Freiheit zu, die Joktha bot.
Er begriff, warum Kellhus den Tod von Conphas wollte: Er duldete keine Rivalen. Ebenso begriff er, warum der Dunyain gerade ihn als Mörder ausgewählt hatte. Natürlich hat der Wilde den Löwen getötet, konnte Kellhus hinterher sagen – schließlich ist er ein Scylvendi, ein Überlebender der Schlacht am Kiyuth.
Ihn quälte, was diese Einsichten ergaben. Wenn Moënghus’ Ermordung der einzige Auftrag von Kellhus war, dann dürfte ihm nur daran liegen, den Heiligen Krieg zu erhalten. Warum sollte er Conphas ermorden lassen, wenn er ihn nur aus dem Spiel nehmen musste, wie er es getan hatte? Und wozu brauchte er Cnaiür, um seine Rolle zu verbergen, da die Folgen – offener Krieg mit dem Kaiserreich – für die anstehende Eroberung von Shimeh doch belanglos waren?
Cnaiür begriff, woran kein Weg vorbeiführte: Der Dûnyain sah über den Heiligen Krieg und Shimeh hinaus. Über Shimeh hinauszusehen aber hieß, über Moënghus hinauszusehen.
Menschen rechtfertigten ihre
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