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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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unterbrochen wurden: den großen Wachtturm, der seinen Namen Zahn den weißen Kacheln seiner Außenwände verdankte.
    Von den im Dunst liegenden Höhen abgesehen, auf denen sich der sogenannte Donjon-Palast befand (die Festung der Stadtherren also), sah Conphas vom Ufer des Oras aus kaum etwas von der Stadt. Das Land wucherte zwar grün, verriet aber das Durcheinander der letzten Zeit. Nicht ein Feld war bepflanzt. Die Obstplantagen waren niedergehackt. Die vor langer Zeit terrassierten, mit verfallenen Villen übersäten Hügel um die Stadt herum ragten düster auf. Eine verlassene ceneische Festung stand auf einem niedrigen Vorgebirge im Süden. Ihre Mauern wirkten so mitgenommen, dass sie eher ein Werk der Natur zu sein schien als von Menschenhand zu stammen.
    Die Welt wirkte so zerstört wie sie war.
    Plötzlich ritten sie durch ein Pfefferbaumwäldchen, und Conphas staunte über den süßen Duft, der im Wind lag. Der alte Skauras hatte damals, als Conphas seine Geisel gewesen war, Pfefferbäume gehabt, einen ganzen Wald, der ein berüchtigter Treffpunkt gewesen war – zumal, was die Verführung von Sklaven betraf. Um in den nächsten Wochen seine Entschlossenheit zu bewahren, würde er sich an solche Erinnerungen halten müssen, dachte Conphas. Ein Gefangener musste sich immer derer erinnern, die er unterjocht hatte, um nicht selbst ein Unterjochter zu werden.
    Auch das war eine Lektion seiner Großmutter.
    Die Straße verließ die bewaldeten Ufer des Oras, und Conphas führte seinen großen, trostlosen Zug über nackten, gelbbraunen Boden auf direktem Weg zum Zahn. Zwei- bis dreihundert Ritter aus Conriya – seine Gefängniswärter – standen zuseiten des dunklen Tors. Ihre glanzlose Erscheinung und ihre bescheidene Zahl ermutigten, ja belustigten ihn.
    Der Anblick des Scylvendi aber, der sich auf seinen Sattelknauf stützte, bereitete seiner guten Laune ein jähes Ende.
    Cnaiür trug nur sein Kettenhemd und hatte einen breiten Scylvendi-Gürtel um den Bauch. Sein schwarzes Haar wallte über die Kapuze, und Skalps der Kianene schaukelten am Zaumzeug seines Pferdes.
    Warum hat Kellhus ausgerechnet ihn geschickt?
    Der Prinz aus Atrithau war ein Dämon – ein schlauer, gerissener Dämon. Aber trotzdem.
    Aber trotzdem.
    »Herr Oberbefehlshaber…«
    Mit finsterer Miene drehte Conphas sich zu seinem General um. »Was gibt es denn?«
    »Wie…«, stammelte Sompas, und in seinen Augen blitzte kaum unterdrückte Wut. »Wie kann er erwarten…«
    »Die Bedingungen sind klar. Ich behalte meine Freiheit, solange ich in Jokthas Mauern bleibe. Ich behalte meinen Stab und alle Sklaven, die ihm dienen. Ich bin der Erbe des Kaisermantels, Sompas. Mich gegen sich aufzubringen heißt, das Kaiserreich gegen sich aufzubringen. Solange sie mich für kastriert halten, werden sie ihr Spiel nach den Regeln spielen.«
    »Aber…«
    Conphas blickte noch düsterer. Martemus hatte bei seinen Fragen nie gestockt, aber auch nie wirklich Angst vor Conphas gehabt. Vielleicht war Sompas der Klügere von beiden.
    »Du denkst, wir seien erniedrigt worden?«
    »Es ist eine Schande, Herr Oberbefehlshaber! Eine Schande!«
    Es ist der Scylvendi, erkannte Conphas. Die Entwaffnung hat schon genügend Salz in die Wunde gestreut. Sich aber einem Scylvendi zu beugen? Er überlegte kurz und war überrascht, nur über die Tragweite dieses Affronts nachgedacht zu haben, nicht aber über den Affront selbst. Hatten die letzten Monate ihm so viel von seiner Intuition geraubt? »Du irrst dich, General. Der Kriegerprophet tut uns einen Gefallen.«
    »Einen Gefallen? Wie…« Sompas verstummte, als habe er sich über seine Heftigkeit erschrocken. Er vergaß ständig seine Stellung, um sich dann wieder daran zu erinnern. Conphas fand das eigentlich ganz amüsant.
    »Natürlich. Er hat mir meinen kostbarsten Besitz zurückgegeben.«
    Sompas vermochte seinen Herrn nur anzuglotzen.
    »Meine Männer. Er hat mir meine Männer zurückgegeben. Er hat sogar die Missliebigen für mich ausgesondert.«
    »Aber wir sind entwaffnet!«
    Conphas sah auf den großen Zug von Bettlern zurück, aus dem seine Armee bestand. Der Staub ließ seine Männer schemenhaft wirken, dunkel und doch bleich – wie eine Legion von Geistern, die zu schwach waren, um bedrohlich oder gar schädlich zu sein.
    Es war perfekt.
    Er warf seinem General einen letzten Blick zu. »Bewahr dir deine Sorgen, Sompas…«, sagte er, wandte sich dem Scylvendi zu und hob die Hand zu einem höhnischen Gruß.

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