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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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verlief ereignislos. Conphas ritt gedankenverloren dahin und ließ sich eine Erklärung nach der anderen durch den Kopf gehen. Die Mitglieder seines Stabes folgten ihm in einigem Abstand, beobachteten ihn befremdet und wagten nur dann etwas zu sagen, wenn er sie direkt ansprach. Hin und wieder stellte er ihnen Fragen: »Welcher Mensch strebt denn nicht nach Göttlichkeit?«
    Kein Wunder, dass ihm alle beipflichteten. Jeder, sagten sie, suche den Göttern nachzueifern, doch nur die Kühnsten – die Ehrlichsten – wagten es, ihren Plänen Ausdruck zu verleihen. Die Narren ließen natürlich nur verlauten, was er ihrer Meinung nach hören wollte. Normalerweise hätte dies Conphas erzürnt – kein Befehlshaber durfte Speichellecker dulden –, doch seine Unsicherheit machte ihn eigenartig nachgiebig. Schließlich hatte ihm der Kriegerprophet eine verdorbene Seele attestiert… und das von Geburt an. Der berühmte Ikurei Conphas war nicht ganz Mensch.
    Seltsamerweise verstand er genau, worauf Kellhus hinauswollte. Sein Leben lang hatte Conphas gewusst, dass er anders war. Er hatte nie vor Verlegenheit gestammelt, war nie in Gegenwart von Respektspersonen errötet, hatte nie ein Blatt vor den Mund genommen. Ringsum ruckten die Menschen hierhin und dorthin – von Haken gezogen, die er nur dem Namen nach kannte: Liebe, Schuld, Pflicht… Obwohl er diese Worte sehr wohl anzuwenden verstand, bedeuteten sie ihm nichts.
    Und am seltsamsten war, dass ihn das völlig kaltließ.
    Während er zuhörte, wie seine Offiziere seiner Eitelkeit schmeichelten, erlangte Conphas eine machtvolle Erkenntnis: Seine Überzeugungen waren belanglos, solange sie ihm brachten, was er wollte. Warum sollte er Logik zur Richtschnur, warum Tatsachen zur Grundlage seines Handelns machen? Die einzige Folgerichtigkeit, die Gewicht hatte, war die Verbindung von Überzeugung und Begehren. Wenn es ihm gefiel, sich für göttlich zu halten, dann hielt er sich eben dafür. Und Conphas begriff, dass er nicht nur die bemerkenswerte Fähigkeit besaß, alles zu tun – wie gnädig oder blutrünstig es auch sein mochte –, sondern auch die Fähigkeit, alles zu glauben. Der Kriegerprophet mochte den Boden in die Senkrechte hängen und alles zum Horizont fallen lassen: Conphas brauchte nur zur Seite zu zeigen, um die Ordnung von Oben und Unten wiederherzustellen.
    Vielleicht waren die Geschichten des Hexenmeisters über die Rathgeber und die Zweite Apokalypse ja wahr. Womöglich war der Prinz aus Atrithau eine Art Retter. Vielleicht war seine Seele wirklich von Geburt an beschädigt. Es war einfach egal, falls es ihn nur gleichgültig ließ. Also sagte er sich, sein Leben sei ein Zeugnis, ganze Zeitalter seien vergangen, ohne eine Seele wie die seine hervorzubringen, und die Schicksalsgöttin begehre einzig und allein ihn.
    »Der Dämon konnte Euch nicht offen angreifen«, sagte General Sompas vorsichtig, »ohne weiteres Blutvergießen und weitere Verluste zu riskieren.« Der Adlige hob die Hand vor die Sonne, um seinen Oberbefehlshaber anzusehen. »Also häufte er Schande auf Euren Namen und trat Dreck in Euer Feuer, damit niemand außer ihm die Beratungen der Großen erleuchten konnte.«
    Obwohl er wusste, dass der General ihm nur schmeichelte, beschloss Conphas, ihm zuzustimmen. Er sagte sich, der Prinz aus Atrithau sei der versierteste Lügner, dem er je begegnet war – ein echter Ajokli! Er sagte sich, die Beratung sei eine Falle gewesen, das Ergebnis langer Proben und sorgfältiger Überlegungen.
    Das sagte er sich, und das glaubte er. Für Conphas bestand kein Unterschied zwischen Entscheidung und Offenbarung, zwischen Herstellung und Entdeckung. Götter nahmen sich selbst zum Maßstab. Und er war einer von ihnen.
    Als er am vierten Tag Jokthas unerschütterliche Türme sah, war seine Wunde ganz verschwunden. Das alte, unbarmherzige Lächeln beherrschte seine Mimik wieder. Ich, dachte Conphas, habe es so bestimmt.
    Gedankenverloren sah er zwischen Schierlingstannen hindurch auf sein Gefängnis. Anders als bei den meisten Städten, auf die der Heilige Krieg gestoßen war, verschmähten die Mauern von Joktha die Vorteile des Geländes. Der Ort war seines Naturhafens wegen gewählt worden, der nur der größte einer ganzen Reihe solcher Häfen an diesem Küstenstreifen war. Die landeinwärts gelegenen Befestigungen bildeten eine lange, geschwungene Linie und lagen wie graue Eisenbänder in der Sonne, die allein durch das einzige Tor der kleinen Stadt

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