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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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»Deine Bestürzung«, murmelte er von der Seite, »verleiht dieser Veranstaltung Glaubwürdigkeit.«
     
     
    Ich vergesse etwas.
    Die Terrasse war groß. Das Marmorpflaster hatte da und dort Risse, wie man es in Frostgegenden erwarten durfte, aber nicht in Enathpaneah. Selbst im Dunkeln waren sie deutlich zu sehen – wie Flüsse auf Landkarten. Risse. Zweifelsohne hatten die ursprünglichen Bewohner ihre Sklaven Teppiche über die kaputten Steine legen lassen, jedenfalls, wenn sie Gäste bewirteten. Kein Prinz der Fanim würde so einen Schaden hinnehmen. So wenig wie die Herren der Inrithi.
    Nur ein Häuptling der Utemot.
    Cnaiür nickte, rieb sich die Augen und stampfte mit den Füßen, um wach zu bleiben. Blinzelnd sah er über die Balustrade hinweg auf Stadt und Hafen. Dächer türmten sich übereinander, kletterten die nahen und fernen Hänge hinauf und bildeten eine breite Schüssel um die Piers und Kais, die den Innenhafen umgaben. Eine heruntergekommene Stadtlandschaft, deren Straßen Canyons ähnelten und allesamt zum Meer führten, breitete sich vor ihm aus.
    Joktha… Er musste nur blinzeln, um es brennen zu sehen.
    Über ihm standen zahllose Sterne wie Staub am Firmament, dessen vollkommene Schale so riesig und tief war, dass schon ein Zucken genügen mochte, damit er in den Himmel hineinfiel. Das erinnerte ihn daran, wie er am Kiyuth erwacht war. Fast konnte er seine Stammesgenossen riechen, die in immer größeren Kreisen tot dalagen.
    Ich vergesse…
    Er döste ein. Die kupferne Weinschale entglitt seinen Fingern und rollte über die rissigen Steine. Ereignisse vom Vorabend gingen ihm undeutlich durch den Kopf: Conphas, wie er ihn vor den Toren köderte; Conphas, wie er über die Bedingungen seiner Internierung diskutierte; Conphas, wie er von seinen Generälen zurückgehalten wurde. Wie weiß sein Brustharnisch in der Sonne geglänzt hatte. Und seine langen Wimpern!
    Ich…
    Der Scylvendi schrak in plötzlicher Erinnerung auf und drehte den Kopf auf den massigen Schultern.
    Ich bin Cnaiür… der Pferden den Willen und Menschen das Leben nimmt.
    Er lachte, döste wieder ein, träumte…
    Er schritt auf Shimeh zu, das allerdings aussah wie das Lager der Utemot in seiner Jugend: eine Ansammlung von mehreren tausend Zelten. Herden grasten auf den Triften ringsum, doch kein Vieh wagte es, sich ihm zu nähern. Er kam an den ersten Zelten vorbei, deren Leder so straff auf den Stangen saß wie Haut über Hunderippen. Die Utemot drängten sich auf den Wegen dazwischen: Gliedmaßen hingen an zertrümmerten Gelenkpfannen, Eingeweide baumelten auf Schenkel herab. Er sah sie alle: seinen Onkel Bannut, seinen Schwager Balait, sogar Yursalka und seine verkrüppelte Frau. Sie beobachteten ihn mit den Pergamentaugen der Toten. Er stieß auf sein abgeschlachtetes Vieh, zunächst auf ein braunes Fohlen mit seinem dreifachen Zeichen, dann auf drei Kühe mit durchgeschnittenen Kehlen und auf einen vierjährigen Bullen mit eingeschlagenem Kopf. Bald kletterte er über Haufen von Pferde- und Rinderkadavern, die alle sein Zeichen trugen.
    Warum auch immer: Er war nicht überrascht.
    Schließlich kam er zum Weißen Zelt, dem Herzen von Shimeh. Ein Speer war neben dem Eingang in den Boden gerammt. Der Kopf seines Vaters schmückte das Heft. Die bleiche Gesichtshaut wirkte wie durchnässtes Leinen. Cnaiür riss sich von dem Anblick los und zog das Rehleder am Eingang beiseite. Irgendwie wusste er bereits, dass Moënghus aus seinen Frauen einen Harem gemacht hatte, und war deshalb weder schockiert noch empört. Doch das viele Blut zermürbte ihn – so wie Serwës fischartiges Öffnen und Schließen des Mundes… Anissi schrie.
    Moënghus sah auf und grinste breit und einladend. Der Ikurei lebt immer noch, sagte er. Warum tötest du ihn nicht?
    »Der Zeitpunkt… der Zeitpunkt…«
    Bist du betrunken?
    »Nepenthe… alles, was der Vogel mir gegeben hat…«
    Ah… dann sehnst du dich also nach Vergessen.
    »Nein… nicht nach Vergessen. Nach Schlaf.«
    Warum tötest du ihn dann nicht?
    »Weil er genau das will.«
    Der Dunyain? Du Raubst, das ist eine Falle?
    »Jedes seiner Worte ist eine Finte, jeder seiner Blicke ein Speer!«
    Was hat er denn vor?
    »Er will mich von seinem Vater fernhalten, mir das Ziel meines Hasses nehmen, mich verraten – «
    Du musst doch nur den Ikurei töten. Tu das, und es steht dir frei, dem Heiligen Krieg zu folgen.
    »Nein! Es gibt da etwas, das ich…«
    Du bist ein Narr!
    Da gelang es Cnaiür,

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