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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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hatte ihn zu fragen gelehrt. Einfach zu fragen…
    »Warum soll ich diesem Pfad folgen und keinem anderen?«
    »Weil die Stimme es verlangt.«
    »Warum soll ich dieser Stimme folgen und keiner anderen?«
    Moënghus hatte ihn gelehrt, dass alles leicht umzustürzen war, dass alle Gewohnheiten und Überzeugungen am Abgrund standen und Empörung und Anklage die einzig echten Grundfesten waren… Alles, was den Menschen ausmachte, ruhte auf Schwertern und Schreien.
    Warum?, rief jeder seiner Schritte. Warum?, fragte jedes seiner Worte. Warum?, keuchte jeder seiner Atemzüge.
    Es muss doch einen Grund geben!
    Aber warum? Warum?
    Die Welt hatte ihn ausgestoßen. Er gehörte nicht länger in die Steppe, konnte sich seine Herkunft aber auch nicht aus den Gliedern prügeln. Er gehörte nicht länger zu den Scylvendi und war doch der Sohn seines Vaters. Die Sitten und Gebräuche der Scylvendi waren ihm gleichgültig geworden, und doch tobten sie heulend in ihm. Er gehörte nicht mehr zu den Scylvendi, und doch schnürten ihm die Erniedrigungen die Kehle zu, und noch immer griff Sehnsucht nach seinem Herzen. Wutrim, dachte er – Scham!
    Abwesende Dinge! Wie konnten abwesende Dinge bleiben?
    Jedes Mal, wenn er sich rasierte, fand sein Daumen untrüglich das Swazond an seiner Kehle. Stets folgte er der rötlichen Spur. Etwas… Ich vergesse etwas…
    Es gab, wie Cnaiür nun begriff, zwei Arten von Vergangenheit: diejenige, an die sich die Menschen erinnerten, und diejenige, die für ihr Leben bestimmend war. Und nur selten fielen sie zusammen – wenn überhaupt. Alle Menschen standen im Bann der zweiten Art von Vergangenheit.
    Und dies zu wissen, ließ sie verrückt werden.
     
     
    Der richtige Zeitpunkt. Über kaum etwas dachte Ikurei Conphas mehr nach als darüber.
    Die Herren des Heiligen Kriegs mochten ihnen diese Länder nicht gönnen, doch die Nansur hielten noch immer die Schlüssel dazu in den Händen. Joktha war alter kaiserlicher Besitz mit alten kaiserlichen Gebräuchen. Vertraut mit den Gefahren, die das Regieren unterworfener Völker barg, hatten lang verstorbene Architekten der Nansur Hunderte Tunnel in Hunderten von Städten graben lassen. Denn Mauern konnten zurückerobert, Leichen aber nur verbrannt werden.
    Dennoch war es erheblich anstrengender gewesen, als Conphas erwartet hatte, aus der Stadt zu fliehen. Auch wenn er es ungern zugab: Der Vorfall mit dem Scylvendi im Donjon-Palast hatte ihm stark zugesetzt – fast so sehr wie der Verlust von Darastius (seinem Rufer von den Kaiserlichen Ordensleuten). Der Barbar hatte ihn geschlagen und wie eine Frau oder ein Kind zu Boden geworfen. Und entgegen allen Erwartungen war Conphas vor Angst wie gelähmt, ja völlig hilflos gewesen und hatte den hageren, von unsagbarem Hunger umgetriebenen Cnaiür von Skiötha als einen von seinem Volk verehrten Räuber empfunden. Er roch sogar nach der Steppe, als enthalte seine erstaunliche Gestalt irgendwo einen Klumpen Erde… Scylvendi-Erde.
    Conphas hatte geglaubt, dies sei sein Tod, und er wusste, dass der Barbar genau das hatte bewirken wollen. Verängstigte Menschen dachten, wie die Galeoth sagten, mit der Haut. Aber das zu wissen, hatte kaum einen Unterschied gemacht. Eine jeden Gedanken lähmende Furcht war auf allen Etappen ihrer Flucht sein Begleiter gewesen: beim Warten auf den Einbruch der Nacht; beim Gang durch die Straßen zur Totenstadt; beim Aufgraben des Eingangs zu den Tunneln. Erst als er mit Sompas den Oras überquerte, konnte er aufatmen – und selbst dann…
    Nun warteten sie mit ein paar Kidruhil am vereinbarten Treffpunkt mehrere Meilen südöstlich von Joktha, einem überwucherten Hügelgrab inmitten dessen, was einmal Imbeyans Jagdrevier gewesen war. Conphas hatte diesen Ort ausgewählt, da unausweichlich er es war, der die Höhepunkte des kommenden Dramas setzen würde.
    Eine Reihe gewaltiger Windstöße fuhr durch die Luft. Die zerzausten Nadelbäume bogen sich zurück wie Mädchen, denen der Sturm ins Gesicht heulte. Winterwelkes Laub wurde aufgeweht und verfing sich im Wirbeln unsichtbarer Röcke. Ferne Baumkronen schwangen hin und her, als würden sich unter ihren Kronen ungeheure Fehden zutragen. Alles schien sich verschworen zu haben, um den Eindruck von Tiefe zu vermitteln. Sehr oft war Conphas die Welt flach vorgekommen – wie etwas, das nur auf seine Augen gemalt worden war. Aber heute nicht, dachte er.
    Sompas’ Brauner schnaubte und schüttelte Kopf und Mähne, um eine Wespe zu

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