Der tausendfältige Gedanke
schrumpfen sehen. Plötzlich schienen sie nur noch verängstigte Kinder unter hoch aufragenden Säulen zu sein. Mit hämmerndem Herzen hob Cnaiür das Gesicht zu Saurnemmi, der von oben zusah und dessen jugendliche Gestalt in purpurne Seide gekleidet war. Cnaiür bemerkte, dass sein Bart wie angeklebt wirkte. »Welcher ist es?«, rief er hinauf.
Saurnemmi hustete dumm wie stets und wies dann mit dem Kopf auf den hinteren Teil der Menge, auf die Männer also, die General Sompas umgaben. »Der da«, sagte er, »der mit den…« – wieder ein förmliches Husten, zu weich, um wirklich Schleim zu lösen – »… mit den silbernen Bändern am Brustharnisch.«
Lächelnd griff Cnaiür unter seinen Gürtel und zog das Chorum seines Vaters hervor.
Plötzlich rannte der schlanke Mann rechts von Sompas über den glänzenden Boden davon. Doch schon nach fünf Schritten wurde er niedergestreckt, und ein Schaft ragte ihm aus dem Nacken. Er schluchzte auf und begann zu schreien, und seine Worte verwandelten Geräusche in Rauch. Seine Augen blitzten, doch Cnaiür war schon bei ihm…
Das Licht war so hell, dass alle Flächen kreideweiß wirkten. Männer hoben schreiend die Arme.
Die Nansur blinzelten und gafften. Cnaiür wandte sich ihnen zu und von der zerbrochenen Salzstatue zu seinen Füßen ab. Er lächelte und schritt hoch aufragend in ihre Mitte, auf Conphas zu. Der Oberbefehlshaber der Nansur sank in sich zusammen, als er sich näherte, doch Cnaiür ging an ihm vorbei und stieg wortlos die gewaltige Treppe hinauf. Man redete nicht mit geprügelten Hunden. Es war nur eine Inszenierung, wie Cnaiür wusste, aber letzten Endes war alles Inszenierung. Auch diese Lektion hatte er vom Dunyain gelernt.
Hinterher brüllte er in seiner Unterkunft und wusste sehr wohl, warum: Ohne die Ankunft des Ordensmanns der Scharlachspitzen wäre er nie auf die Idee gekommen, auch Conphas könnte einen Hexenmeister haben. Doch der Grund dieser Einsicht blieb ihm – wie immer – verborgen.
War etwas nicht in Ordnung mit ihm?
Feinde ringsum! Sogar in ihm selbst…
Sogar Proyas… Ob er es über sich bringen würde, auch ihm den Hals zu brechen?
Er hat mich hierher geschickt, damit ich mich umbringe!
Abends trank Cnaiür viel Alkohol, und die Speere, die unter jeder Oberfläche verborgen waren, wurden stumpf. Das Entsetzen quoll eher aus den Rissen des Fußbodens. Trotz der Räucherpfannen roch die Luft nach den Zelten: nach Erde, Rauch und faulenden Häuten. Er hörte Moënghus durchs dämmrige Innere flüstern…
Noch mehr Lügen und Verwirrung.
Und der Vogel, der verdammte Vogel! Er schien ein Knoten zu sein – als habe alles Abscheuliche mit einem Ruck eine einzige Form angenommen. Cnaiür wurde schon beklommen, wenn er nur an ihn dachte. Aber natürlich konnte er nicht real sein – genauso wenig wie Serwë…
Das jedenfalls sagte er ihr jede Nacht, in der sie zu ihm ins Bett kam.
Etwas… etwas stimmt nicht mit mir.
Er wusste das, weil er sich zu sehen vermochte, wie der Dunyain ihn sah. Ihm war klar, dass Moënghus ihn von den Pfaden seines Stamms gestoßen hatte und er seit dreißig Jahren auf der Suche nach seiner eigenen Fährte durchs Gras stolperte. Auf der Suche nach einem Weg zurück.
Seit dreißig Jahren! Auch darüber war er sich im Klaren. Die Scylvendi waren ein ungestümes Volk – wie alle Völker außer den Dunyain. Sie hörten auf ihre Geschichtssänger und auf ihr Herz. Wie Hunde bellten sie Fremde an. Sie beurteilten Ehre und Schande genauso, wie sie nah und fern abschätzten. In ihrer angeborenen Eitelkeit machten sie sich selbst zum Maß aller Dinge. Sie erkannten nicht, dass Ehre – wie Nähe – einfach davon abhing, wo man sich befand.
Dass Ehre also eine Lüge war.
Moënghus hatte ihn auf ein anderes Gelände gelockt. Wie hätten seine Landsleute etwas anderes als ein Skandalon in ihm sehen sollen, da seine Stimme sie aus einem unbekannten Dunkel erreichte? Wie sollte er ihre Pfade wiederfinden, da doch alle Böden zertrampelt waren? Er würde mit seinem Volk nie mehr eins sein können – nicht nach Moënghus. Er konnte denken und fluchen, so viel er wollte: Die wilde Unschuld seiner Stammesbrüder würde er nie mehr zurückerlangen. Es war töricht gewesen, das überhaupt versucht zu haben… Unwissen war seit jeher die Speerspitze der Gewissheit, denn es war sich selbst gegenüber blind, wie der Schlaf. Nichtwissen, sondern die Abwesenheit von Fragen gab Antworten ihre Absolutheit. Moënghus
Weitere Kostenlose Bücher