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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Schlacht und in der Wüste, durch Hungersnot und Seuche hatte er sie wie Sand durch seine Finger gesiebt. Nur die Stärksten und die vom Glück am meisten Begünstigten hatten überlebt. Zu Brüdern wird man nicht, indem man Brot, sondern indem man Feinde bricht, hieß es bei den Ainoni. Doch gebrochen zu werden war – wie Achamian erkannte – eine noch einschneidendere Erfahrung. Aus dem Schmiedefeuer ihres gemeinsamen Leidens war etwas Neues entstanden, etwas Hartes, Scharfes, das Kellhus einfach vom Amboss genommen hatte.
    Sie gehören ihm, dachte Achamian oft, wenn er Reihen grimmig dreinblickender Männer durch schroffes Gelände ziehen sah. Allesamt! Und so sehr, dass im Falle von Kellhus’ Tod…
    Fast immer hielt Achamian sich direkt bei Kellhus im Sakralen Gefolge oder in seiner Nähe im labyrinthisch anmutenden »Nabel« auf, wie die Inrithi den gestohlenen Pavillon ihres Propheten inzwischen nannten. Solange sie nichts Gegenteiliges erfuhren, mussten sie annehmen, dass die Rathgeber früher oder später einen Mordanschlag riskierten. Kellhus’ Vormachtstellung war nun viel bedrohlicher als zuvor.
    Da der Heilige Krieg marschierte, konnten die beiden gefangenen Hautkundschafter allenfalls gelegentlich verhört werden. Die Scheusale reisten unter Bewachung der Scharlachspitzen mit dem Tross – jedes in einem Wagen mit Verdeck, aufrecht in ein Netz aus Eisenketten gefesselt. Achamian nahm an allen Verhören teil und bearbeitete die beiden Wesen fruchtlos mit den wenigen gnostischen Erzwingungsformeln, die er kannte. Die Folterungen, die Kellhus ersann, waren ebenso unwirksam, obwohl Achamian noch Stunden später kaum blinzeln konnte, ohne diese Sitzungen vor Augen zu haben, bei denen die Wesen sich schreiend und kreischend im Dunkeln krümmten und ihre Stimmen wie Tiergeheul aus vielen Kehlen klangen, bis sie mit an Kies und Schlamm zugleich gemahnender Stimme lachend riefen: »Chigraaaaa… großer Jammer zieht herauf, Chigraaaaa…«
    Achamian wusste nicht, was ihn mehr zermürbte: ihre Gesichter mit den vielen Fingern, die sich im Wechsel zusammenballten und öffneten, oder die heilige Gelassenheit, mit der Kellhus ihnen zusah. Nicht einmal in seinen Träumen von der Ersten Apokalypse hatte er je solche Extreme von Gut und Böse gesehen. Nie hatte er größere Gewissheit verspürt.
    Aus naheliegenden Gründen wohnte Achamian auch jeder Audienz des Kriegerpropheten bei den Scharlachspitzen bei, die er als seltsame, unsinnige Veranstaltungen empfand. Eleäzaras hatte offenkundig zu trinken begonnen, was sein Auftreten steif und unbeholfen wirken ließ – ein erschreckender Unterschied zur redseligen Verachtung, die in Momemn so typisch für ihn gewesen war. Vorbei war es mit der despotischen Selbstsicherheit, mit den abschätzenden Blicken, mit den Vorführungen höherer Weihen des Jnan. Nun wirkte er wie ein Jugendlicher, der das fatale Ausmaß seiner Prahlereien erkannt hatte. Endlich marschierte der Heilige Krieg gen Shimeh, der Hochburg der Cishaurim. Nun würden sie sich nicht mehr mit fadenscheinigen Gründen vor der Schlacht drücken können. Bald würden die Scharlachspitzen auf ihre Todfeinde treffen, doch ihr Hochmeister Hanamanu Eleäzaras hatte furchtbare Angst… Fehler zu machen, im Feuer der Cishaurim zu verbrennen und seinen sagenumwobenen Orden zu zerstören.
    Gegen jede Vernunft bedauerte Achamian ihn, wie rüstige Leute schwächliche Menschen bei Krankheiten eben bedauern. Er konnte es sich nicht erklären. Der Charakter aller, die mit dem Heiligen Krieg losgezogen waren, war auf die Probe gestellt worden. Einige hatten gestärkt, andere gebrochen, wieder andere verbogen überlebt. Und alle wussten, wer zu den Gestärkten, zu den Gebrochenen und zu den Verbogenen gehörte.
    Nie war der chanvsüchtige Iyokus bei diesen Treffen anwesend, aber er wurde auch nicht erwähnt, wofür Achamian dankbar war. So sehr er ihn hasste und so gern er ihn damals im nächtlichen Apfelgarten getötet hätte, konnte er doch nur einen Bruchteil dessen eintreiben, was Iyokus ihm schuldig war. Als die Hundert Säulen ihm die Augen mit den roten Iriden aus dem Kopf geschnitten hatten, hatte Iyokus plötzlich wie ein glückloser Fremder gewirkt… wie ein Unschuldiger. Die Vergangenheit löste sich in Rauch auf, und Vergeltung erschien als Ausdruck verabscheuungswürdiger Selbstgefälligkeit. Wer war er, dass er letztgültige Urteile fällen konnte? Die einzige absolute Tat, die der Mensch zu begehen

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