Der tausendfältige Gedanke
erstaunt – über Esmenets bloßen Anblick, über ihre männliche Kühnheit, über die bedingungslose Autorität, die sie in ihrer Umgebung genoss. Alles an ihr wirkte forsch und entschlossen. Sie kam ihm wie eine Fremde vor.
Normalerweise aber reiste Esmenet in der Schwarzen Sänfte, wie die anderen sie bald nannten – einem luxuriösen Fortbewegungsmittel, das auf dem Rücken von sechzehn Sklaven der Kianene getragen wurde. Ein Schreiber ritt an ihrer Seite, und den ganzen Tag über sah Achamian Reiter herankommen und mit ihr über unergründbare Angelegenheiten reden. Sie selbst dagegen sah er nur, wenn Kellhus neben der Schwarzen Sänfte ritt und Fragen stellte oder Anweisungen gab. Zwischen Gliedmaßen und Oberkörpern hindurch entdeckte er flüchtig ihre geschminkten Lippen unter dem gerefften Baldachin, ihren Unterarm, der auf einem angewinkelten Knie lag, oder ihre entspannt baumelnde Hand. Oft überkam ihn mit schmerzhafter Wucht der Drang, den Hals zu recken oder sogar ihren Namen zu rufen. Ihre Augen sah er fast nie.
Ihre Begegnungen ergaben sich meist nach dem Marsch, und zwar im Treiben rings um das Zelt des Kriegerpropheten. Da diese Zusammentreffen sich unter den Augen aller zutrugen, gewährte sie ihm für gewöhnlich nur ein höfliches Nicken. Achamian hatte sie erst für grausam gehalten und geargwöhnt, sie sei – wie viele andere – nachtragend, um ihren Hass besser pflegen zu können. Gab es einen besseren Weg, die Reste ihrer Liebe zu zerstören? Doch nach einiger Zeit begriff er, dass sie sich auch ihm zuliebe so verhielt. Jeder wusste, dass sie ein Paar gewesen waren, bevor Kellhus sie zu sich genommen hatte. Obwohl niemand das auszusprechen wagte, sah er es mitunter in diesem oder jenem Blick, besonders in dem von Proyas. Unvermitteltes Wissen um die Scham eines anderen. Plötzliches Mitleid.
Jede Wärme, die sie ihm entgegenbrächte, würde andere an seine Erniedrigung erinnern – an seine Schande als Hahnrei.
Fünf Tage nach dem Abmarsch aus Caraskand – die Sklaven hatten eben den großen Pavillon errichtet und möbliert – zog Achamian sich in sein Gemach zurück, um sein Abendgewand anzulegen, und da war sie. Sie stand im Halbdunkel des Zelts und wartete auf ihn. Ihr Gewand hatte goldene und schwarze Streifen, und ihr Haar war zu einer Frisur der Girgashi gebunden. »Achamian«, sagte sie – nicht Akka.
Er rang um Fassung und unterdrückte den Wunsch, sie in die Arme zu nehmen.
Zu seiner Bestürzung sprach sie nur über Dinge, die Kellhus’ Sicherheit betrafen. Er rechnete beinahe damit, sie werde seine Dienstpflichten herunterbeten, als wäre sie eine Kaiserin und er ein vertraglich an sie gebundener auswärtiger Berater. Doch Achamian ließ sich darauf ein, beantwortete ihre Fragen kurz und präzise und war erstaunt darüber, wie unsinnig ihr neues Verhältnis war, aber auch beeindruckt von ihrer strengen Befragung und der sich darin bekundenden Einsicht.
Und er war stolz… ungemein stolz auf sie.
Du bist mir stets überlegen gewesen.
Während andere nur Mauern für ihn waren, war Esmenet eine alte Stadt, ein Gewirr aus Gassen und kleinen Plätzen, in dem er einst beheimatet gewesen war. Er kannte ihre Herbergen und Kasernen, Türme und Zisternen. Egal, wo er ging: Er wusste stets, dass diese Richtung dahin, jene dorthin führte. Er verlor nie die Orientierung – so sehr die Welt vor ihren Toren ihn auch verwirren mochte.
Er wusste um den Hang der Liebenden, Selbsttäuschung zu einer Religion zu erheben. Es gab – so hatte er oft gedacht – kaum einen Unterschied zwischen der frommen Dichtung des Protathis und den Kritzeleien an den Wänden der Badehäuser. Liebe war nie so einfach wie die Zeichen, die von ihr kündeten. Warum sonst litten Liebende so oft an Verlustangst? Warum sonst beharrten so viele darauf, die Liebe rein oder einfach zu nennen?
Was er mit Esmenet geteilt hatte, war unerklärlich gewesen – genau wie das, was sie nun mit Kellhus teilte. Achamian dachte oft über die zahllosen Schrecken nach, die sie durchgemacht hatte: über den Tod ihrer Tochter Mimara und die Zeiten des Hungers; über die Wut in den Mienen derer, die grimassierend auf ihr gelegen hatten; über die Blutergüsse und die Gefahr. Von Mimara abgesehen, tat sie diese Dinge mit Humor ab, wozu Achamian sie stets ermutigt hatte. Wie sollte er ihre Last tragen, da er kaum seine eigene tragen konnte? Die Ehrlichkeit zeigte sich stets später – daran, wie sie seine Finger gedrückt
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