Der tausendfältige Gedanke
Willen. Er stahl sich in sein Bewusstsein und verschwand wieder, war bisweilen bedrängend und lag mitunter nur kalt und reglos da. Obwohl er ihm alt und vertraut schien, besaß der Gedanke die Dringlichkeit von Dingen, an die man sich zu spät erinnert. Er war zugleich ein schriller Schrei zu den Waffen und ein schmerzliches Eingeständnis der Sinnlosigkeit. Er hatte sie nicht einfach verloren: Er hatte sie an ihn verloren.
Ihm war, als könnte seine Seele nur gewisse Dinge und gewisse Dimensionen erfassen. Als wäre ihre Untreue einfach zu groß dafür.
Alter Dummkopf!
Seine Ankunft im Fama-Palast hatte die Zaudunyani völlig durcheinandergebracht. Zwar behandelten sie ihn mit Ehrfurcht, denn schließlich war er der ehemalige Lehrer ihres Meisters, doch sie wirkten dabei beklommen, und zwar auf bange Weise. Wären sie misstrauisch gewesen, so hätte Achamian es darauf zurückgeführt, dass er ein Hexenmeister war – immerhin waren sie fromme Männer. Aber sie schienen weniger von ihm als durch ihre eigenen Gedanken beunruhigt. Achamian kam zu dem Schluss, dass sie ihn kannten, wie Menschen Leute eben kennen, über die sie spotten, wenn sie unter sich sind. Und nun, da er vor ihnen stand – ein Mann, der eine bedeutende Rolle in den Schriften spielen würde, die diesem Krieg unweigerlich folgten –, waren sie bestürzt über ihre Respektlosigkeit.
Natürlich wussten sie, dass er ein Hahnrei war. Mittlerweile waren die Geschichten all derer, die am Feuer des Xinemus ihr Brot geteilt oder einen Braten zerlegt hatten, in irgendeiner stets verzerrten Form weitergegeben worden. Keine noch so persönliche Einzelheit war dabei ausgespart geblieben. Und besonders seine Geschichte – die eines Hexenmeisters, der eine Hure liebte, die die Gemahlin des Propheten werden sollte – war zweifellos schon Tausenden über die Lippen gekommen und hatte seine Schmach endlos vervielfacht.
Während er darauf wartete, dass der verborgene Apparat aus Boten und Sekretären sein Ersuchen weiterleitete, trat Achamian in einen angrenzenden Hof. Plötzlich waren ihm die gewaltigen Dimensionen in den Sinn gekommen, in denen sein Leben sich gegenwärtig bewegte. Selbst wenn weder die Rathgeber noch eine Zweite Apokalypse drohen würden, wäre trotzdem nichts mehr wie früher. Kellhus würde die Welt verändern, und zwar nicht wie Ajencis oder Triamis, sondern wie Inri Sejenus.
Achamian begriff, dass er sich im Jahr eins befand – im ersten Jahr eines neuen Zeitalters.
Er trat aus dem kühlen Schatten des Säulengangs ins grelle Licht der Morgensonne, blieb einen Moment lang stehen und blinzelte gegen den weiß und rosa glänzenden Marmor. Dann fiel sein Blick auf die Beete in der Mitte des Hofs, die zu seinem Erstaunen erst vor kurzem umgegraben und mit weißen Lilien und lanzenförmigen Agaven bepflanzt worden waren, mit Wildblumen also, die vor der Stadt ausgegraben worden waren. Er sah, dass sich auf der anderen Seite des Hofs drei Männer – vermutlich Büßer wie er – leise berieten, und war frappiert darüber, wie rasch die Dinge wieder beschaulich, ja normal geworden waren. Eine Woche zuvor war Caraskand noch ein Ort der Zerstörung und des Elends gewesen; nun konnte er beinahe glauben, er sehe einer Audienz in Momemn oder Aöknyssus entgegen.
Selbst die Banner – weiße Bahnen aus Seidenstoff, die längs der Säulengänge aufgehängt waren – verbreiteten eine unheimliche Kontinuität, den Eindruck, nichts habe sich verändert und den Kriegerpropheten habe es schon immer gegeben. Achamian musterte das stilisierte Bild von Kellhus, das mit schwarzem Faden auf den Stoff gestickt worden war, wobei die ausgestreckten Arme und Beine den Kreis in vier gleich große Abschnitte teilten: das Banner des Kriegerpropheten, Zirkumfix genannt.
Ein kühler Wind strich durch den Hof, und eine Falte legte sich kräuselnd über das Bild, als würde sich eine Schlange unter einem Laken winden. Schon vor der Schlacht musste jemand mit dem Besticken dieser Banner begonnen haben.
Wer immer das gewesen sein mochte: Serwë hatte man vergessen. Achamian verscheuchte seine Erinnerungen, die sie zusammen mit Kellhus und dem Bronzering zeigten. Trotz der Dunkelheit unter dem Umiaki hatte er geglaubt, ihr leichenstarres, aber verzücktes Gesicht zu erkennen…
»Der Nicht-Gott kehrt zurück, Akka. Ich hab ihn gesehen! Es ist der, von dem du gesprochen hast«, hatte Kellhus in jener Nacht erklärt. »Tsuramah oder Mog-Pharau…«
»Meister
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