Der tausendfältige Gedanke
Leuchtfeuer auf den Brüstungen und holte mit magischen Blitzen Drachen vom Himmel. In der Eämnoriade war er der intrigante Fremde, der – entgegen seinen großspurigen Ankündigungen – am Vorabend der Ankunft des Nicht-Gottes das Weite suchte. In der Chronik von Akksersia war er die Verkörperung der Hoffnung, der Gehobene Schild von König Cundraul III. nämlich. In der Chronik von Sakarpus war er ein wahnsinniger Flüchtling, der König Huruth V. dafür getadelt hatte, nicht mit dem Schatz an Chorae nach Mehtsonc geflohen zu sein, und dafür von ihm verstoßen worden war. Und in der Anaxiade, der großen, tragischen Saga von Kyraneas’ Untergang, war er als Träger des Heronspeers gar der Retter der Welt.
Ob gehasst oder verehrt – Seswatha war die Nadel im Kompass des Steuermanns. Er war der eigentliche Held der Sagas, obwohl keiner der neun Texte ihm diese Rolle zusprach. Und immer, wenn Esmenet einer Variante seines Namens begegnete, fasste sie sich an die Brust und dachte: Achamian.
Es war nicht leicht, vom Krieg oder gar von der Apokalypse zu lesen. So viel sie tagsüber auch zu tun hatte – stets tauchten Bilder aus den Sagas vor ihrem geistigen Auge auf: Sranc, die die Knochen ihrer Opfer zu Rüstungen verarbeitet hatten; die brennende Bibliothek von Sauglish und die Tausende, die sich in ihre heiligen Hallen geflüchtet hatten; die Mauer der Toten mit all den Leichen, die an den seewärts gerichteten Wällen von Dagliash hingen; das widerliche Golgotterath, dessen goldene Hörner berghoch in den düsteren Himmel ragten; schließlich Tsurumah, der Nicht-Gott, eine gewaltige schwarze Windhose…
Kriege über Kriege: genug, um jede Stadt, jedes Zuhause zu vernichten und alle Unschuldigen – sogar die Ungeborenen – zu verschlingen.
Der Gedanke, dass Achamian all dies fortwährend durchlebte, ließ ein seltsam scheues, ja zurückschreckendes Schuldgefühl in ihr aufsteigen. Jede Nacht sah er Horden von Sranc am Horizont und schrak vor Drachen zurück, die aus schwarzen Wolken niederfuhren. Jede Nacht musste er Trysë, die Heilige Mutter aller Städte, im Blut ihrer bestürzten Kinder versinken sehen. Jede Nacht durchlebte er erneut das furchtbare Erwachen des Nicht-Gottes und hörte das Wehklagen der Mütter über ihre totgeborenen Söhne.
Das ließ Esmenet unsinnigerweise an Tagesanbruch – Achamians totes Maultier – denken. Sie hatte nie wirklich verstanden, wie viel ihm dieser Name bedeutet haben und mit welch schmerzlicher Hoffnung er verbunden gewesen sein musste. Das aber hieß, wie sie erschrocken begriff, dass sie auch Achamian nie wirklich verstanden hatte. Er war Nacht für Nacht missbraucht und von gewaltigen, uralten Lüsten erniedrigt worden, und ausgerechnet sie als Hure hatte die Gräuel übersehen, die seiner Seele aufgeladen worden waren!
Du bist mein Morgenlicht, Esmenet …
Was mochte es für jemanden, der wieder und wieder den Weltuntergang durchlebte, bedeuten, erwachend zu spüren, dass sie da war, und in ihr Gesicht zu sehen? Woher hatte er den Mut genommen? Und das Vertrauen?
Ich war sein Morgenlicht.
Dann spürte Esmenet, wie es sie überwältigte. Sie wollte sich dagegen wehren, doch es war zu spät. Zum ersten Mal verstand sie, dass sein sinnloses Drängen, sein verzweifeltes Bemühen um Gehör, seine verhärmte Liebe, sein kurzatmiges Mitgefühl – dass all dies Anzeichen der Apokalypse waren. Das Wunder lag darin, dass er, der den Untergang von Nationen mit ansah und dem Nacht für Nacht alles, woran er hing, und alles Verheißungsvolle entrissen wurde, noch immer liebte und Gnade und Mitleid zu erkennen vermochte… Wie konnte sie ihn da nicht für stark halten?
Sie begriff, und das erschreckte sie, denn ihr Begreifen kam der Liebe allzu nahe.
In jener Nacht träumte sie, mitten in einem namenlosen Meer zu treiben, das sich bodenlos unter ihr erstreckte. Angst zog an ihr, als wären Steine an ihre Fußknöchel gebunden. Doch als sie nach unten sah, erkannte sie im dunklen Wasser nichts als Schatten, die sie in ihrer fast völligen Klarheit bezauberten. Riesig waren sie und wanden sich um ungeheure Dinge. Obwohl sie es zuerst nicht zulassen wollte, gewöhnten sich ihre Augen nach und nach an den Anblick, und die monströsen Gestalten wurden immer deutlicher. Nie hatte sie sich so klein und hilflos gefühlt. Das Meer lag friedlich und sonnengrün über schwarz brodelnden Tiefen. Eine schlängelnde Bewegung. Große, milchige Augen. Palisaden durchscheinender
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