Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
Vom Netzwerk:
man gefahrlos hinwegsehen konnte.
    Wenn Achamian die Sagas erwähnt hatte, dann nur, um sie abzutun oder zu schmähen. Für einen Ordensmann der Mandati seien sie wie Perlen an einem Leichnam. Er sprach über die Apokalypse und den Nicht-Gott wie andere über zählebige Streitigkeiten mit Verwandten: mit der unbekümmerten Direktheit persönlicher Erfahrung und in Begriffen und Tönen, bei denen es ihr oft kalt den Rücken hinunterlief. Durch Achamian war der Alte Norden, der ihr trotz seines Schreckens leer und doch unerbittlich erschienen war, für sie zu etwas Umfassendem und Komplexem geworden, zum Rahmen einer anscheinend unerschöpflichen Litanei zerstörter Hoffnungen. Im Vergleich dazu waren ihr die Sagas als etwas Törichtes, womöglich gar Verbrecherisches vorgekommen. Bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen andere sie erwähnten, lachte und spottete sie innerlich. Was wussten sie schon von diesen Dingen! Selbst die, die lesen konnten…
    Doch so viel sie auch über die Apokalypse erfahren hatte: von den Sagas selbst wusste sie nichts. Als sie den Anfang der Handschrift vorsichtig entrollte, traf sie diese Unwissenheit mit der Wucht einer entdeckten Täuschung. Trotz des Titels war sie erstaunt darüber, dass die Sagas aus unterschiedlichen Werken verschiedener Autoren bestanden, von denen allerdings nur zwei – Heyorthau und Nau-Ganor – namentlich bekannt waren. Es gab neun Sagas. Die erste hieß Kelmariade. Einige waren, wie sie später herausfand, Versepen, andere Prosachroniken. Sie tadelte sich wegen ihres Erstaunens. Einmal mehr war sie dort, wo sie Einfachheit erwartet hatte, auf Komplexität gestoßen. War das nicht immer so gewesen?
    Sie hatte keine Ahnung, woher Kellhus die Schriftrolle hatte, doch sie war sehr alt und von solch kalligrafischer Schönheit, dass sie eher gemalt als geschrieben wirkte und sicher das Schmuckstück der Bibliothek eines lange verstorbenen Gelehrten gewesen war. Das Pergament war aus den Häuten ungeborener Lämmer gefertigt, weich und makellos. Der Stil der Handschrift sowie die Diktion und der Ton der Übersetzerwidmung schienen an das Zartgefühl einer ganz anderen Art von Lesern gerichtet zu sein. Zum ersten Mal wusste sie die Tatsache zu schätzen, dass diese Geschichte selbst geschichtlich war.
    Irgendwie war ihr nie in den Sinn gekommen, dass Schriften Teil dessen sein konnten, wovon sie handelten. Sie schienen immer… jenseits der Welt zu schweben, die sie beschrieben.
    Es war seltsam. Hier lag sie auf ihrem Ehebett, den Kopf aufs seidenbestickte Kissen gestützt, die Schriftrolle in bequemem Winkel vor sich. Doch als sie die einleitende Anrufung las…
     
    Zürnt, Göttin! Singt von Eurer Flucht
    Vor unseren Vätern und Söhnen.
    Fort, Göttin! Versteckt Eure Göttlichkeit
    Vor der Einbildung, die Narren zu Königen,
    Vor der Prüfung, die Seelen zu Leichnamen macht!
    Mit offenem Mund und ausgebreiteten Armen flehen wir:
    Singt uns das Ende Eures Liedes.
     
    … da verschwand alles um sie herum – der schmiedeeiserne Baldachin, die dunklen Winkel hinter den Wandschirmen, die von der Decke hängenden Stoffbahnen. Lesen bedeutete, wie sie nun merkte, einen anderen Standpunkt einzunehmen. Es verschleierte das zeitlich oder räumlich unmittelbar Benachbarte und ließ zurückliegende und weit entfernte Dinge auftauchen. Es entband das Hier von unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung und weitete es zum Überall. Es befreite das Jetzt aus dem Käfig der Gegenwart und verlieh ihm den Anschein von Ewigkeit.
    In einer Art schwebendem Staunen tauchte sie in die erste Saga ein.
    Sie empfand die Lektüre als schwierig und seltsam erotisch, als wäre – von der Einsamkeit des Genusses abgesehen, die den Leser stets auch zum Selbsterreger werden ließ – ihre Mühsal, den alten Annahmen des Verfassers Rechnung zu tragen, etwas zu Intimes, um nicht auch körperliche Empfindungen auszulösen. Die Erkenntnis, dass die Kelmariade die Geschichte von Anasûrimbor Celmomas war, ließ ihr den Atem stocken und weckte eine erste Vorahnung von Schrecken. Hier handelte es sich nicht nur um die Geschichte, von der Achamian Nacht für Nacht träumte – hier ging es auch um Kellhus’ Vorfahren! Die Zeit und die Orte dieses Textes waren – so begriff sie – gar nicht so weit weg, wie sie es sich gewünscht hätte.
    Sie entnahm dem Text, dass die Anasûrimbor-Dynastie schon im Frühen Altertum alt und ehrwürdig gewesen war. Die Verse erwähnten vieles, was ihr – wie etwa das

Weitere Kostenlose Bücher