Der tausendfältige Gedanke
Zähne. Und mittendrin trieb bleich und nackt und wie ein Grasbüschel… Achamian.
Sein Arm pendelte tot in der Strömung.
Plötzlich keuchte und zitterte sie in Kellhus’ parfümierten Armen. Er beruhigte sie, strich ihr die Haare aus den Augen und sagte, es sei nur ein Alptraum gewesen.
Die Verzweiflung, mit der sie sich an ihn klammerte, erschreckte sie. »Ich möchte dich nicht teilen«, flüsterte sie und küsste die weichen Locken an seinem Hals.
»Ich dich auch nicht«, sagte er.
Sie hatte ihm nie erzählt, dass Achamian und sie sich in der furchtbaren Nacht mit Proyas und Xinemus geküsst hatten. Aber es war kein Geheimnis zwischen ihnen – nur etwas, worüber nicht gesprochen wurde. Sie hatte stundenlang über sein Schweigen gegrübelt und länger noch das eigene Schweigen verflucht. Warum ging Kellhus, der ihr so konsequent jede Schwäche ausgetrieben hatte, über diese schweigend hinweg? Doch sie wagte nicht, ihn danach zu fragen. Vor allem nicht, solange sie sich durch die Sagas arbeitete.
Sie sah nun alles ganz klar vor sich: die verlassenen Städte, die rauchenden Tempel, die Toten an den Sklavenstraßen nach Golgotterath. Sie folgte den Erratikern der Nichtmenschen, die auf der Jagd nach Überlebenden durch die Gegend ritten. Sie sah, wie die Sranc die Totgeburten ausgruben und auf Scheiterhaufen verbrannten. Sie beobachtete das alles von weitem und mehr als zweitausend Jahre zu spät.
Nie hatte sie etwas so Düsteres, Verzweifeltes und doch so Ruhmreiches gelesen. Gift schien in des Wunders eigene Karaffe gegossen. Das also, dachte sie ab und an, ist seine Nacht …
Und obwohl sie die Worte aus ihrem Herzen prügeln wollte, tauchten sie auf, eisig wie anklagende Wahrheiten, unerbittlich wie wohlverdientes Leid: Ich war sein Morgenlicht.
Eines Abends, als sie die Sagas fast durchgelesen hatte, sah sie Achamian zufällig auf einem umgekippten Steintisch sitzen und die Füße weltvergessen ins grüne Wasser des Nazimel halten. Die Freude, die sie daraufhin plötzlich und herrlich selbstverständlich empfand, ließ sie nach Luft schnappen. Ihre Bestürzung kam ebenso unvermittelt, war aber viel komplexer. Sie hätte rufen können: »Jetzt zeigen wir’s dem Fluss, was?«, denn Achamian hatte ein Bad nötig. Sie hätte sich neben ihn setzen, die Füße ins Wasser tauchen und ein paar lahme Scherze mit ihm wechseln können. Sie hätte sich leise anschleichen und ihm »Pass auf!« ins Ohr rufen können. Doch ihn nur anzusehen, empfand sie inzwischen schon als… bedrohlich.
Es war doch sein Fehler gewesen! Wenn er geblieben wäre, wenn Xinemus die Bibliothek doch nicht erwähnt hätte, wenn ihre Hand nicht in Kellhus’ Schoß geruht hätte… Sie hatte gespürt, wie sein Herz vor Schreck verstummt war.
»Esmi«, hatte er in der Nacht gesagt, als er von den Toten zurückgekehrt war, »ich bin es… ich.«
Hinter ihm zogen sich einige Thunyeri aus und kämpften hüpfend mit ihren Beinlingen. Einer von ihnen rannte brüllend los und sprang von einem Felsblock ins schimmernde Wasser. Am anderen Ufer, wo der Fluss über Kiesbänke rauschte, stemmten ein paar Wäsche waschende Sklavinnen lachend die Hände in die Hüften. Wo der Schatten der Katalpabäume ins Wasser ragte, kam der Thunyeri mit einem Triumphschrei wieder an die Oberfläche. Ob er den Krawall nun nicht mitbekam oder ob er ihm nichts ausmachte: Achamian beugte sich vor, schöpfte Wasser in die Hände, spritzte es sich ins Gesicht, schnitt eine Grimasse und blinzelte. Sonnenlicht funkelte aus den schwarzen Locken seines Barts.
Verblüfft sah er ins Wasser, schloss und öffnete die Augen.
Sie verspürte ein plötzliches Gefühl des Erwachens, als wären die letzten Monate nur einer der gewundenen Alpträume gewesen, die Schreckenstaten in gedankenlose Normalität kleideten. Sie war Kellhus nie erlegen, hatte Achamian nie zurückgewiesen und konnte »Akka!« rufen.
Doch es war kein Traum.
Kellhus strich ihr mit warmer Hand von der Schulter zur Brust, und sie atmete vernehmlich. Dann glitt seine Rechte über ihren Bauch zur knochenglatten Wölbung ihrer Hüfte, an der Außenseite ihres Schenkels hinunter und an der Innenseite hinauf… Sie erhob sich und spreizte die Beine… und Akka weinte und raufte sich entsetzt und ungläubig den Bart. »Esmi!«, rief, ja kreischte er. »Esmi, bitte! Ich bin es… ich!… Ich bin am Leben.«
Mit ihren tränennassen Augen konnte sie ihn vor dem glitzernden Dunkel des Flusses kaum mehr erkennen.
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