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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Joch der Cond, die Gottkönige von Ûmerau oder die Entführung von Omindalea – kein Begriff war. Irgendwie hatte sie die Erste Apokalypse stets nur als den Anfang der Geschichte betrachtet, nicht auch als das Ende einer Vorgeschichte. Erneut verwandelte sich das, was ihr nichtssagend und monolithisch erschienen war, in ein Haus mit vielen Zimmern.
    Die Geburt von Celmomas II. hatte unter dem denkbar ungünstigsten Stern gestanden: Er war mit einem totgeborenen Zwillingsbruder namens Huörmomas zur Welt gekommen. Die Zeilen
     
    Sein rosiges Schreien konnte den Bruder nicht
    Aus seinem blauen Schlummer wecken
     
    ließ sie an Serwë und Moënghus denken und entsprechend unruhig werden. Und die Art, wie der Dichter dieses grauenvolle Bild einsetzte, um die hartherzige Brillanz des Königs zu erklären, ängstigte sie unbegreiflich, denn er betonte nachdrücklich, der tote Huörmomas habe sich immer wieder an seinen Bruder angeschlichen und so sein Herz gefrieren lassen, seinen Intellekt aber angeregt:
     
    Grausiger Verwandter, der jedem seiner Beschlüsse
    Schneidende Kälte verlieh.
    Dunkles Spiegelbild! Selbst die Ritterhäuptlinge
    Mummten sich ein, wenn sie dein Funkeln
    In den Augen ihres Herrn entdeckten.
     
    Danach nahm die seltsame Intensität, die seit dem bloßen Gedanken, die Sagas zu lesen, über allem gelegen hatte und die sie sogar das Gewicht der Schriftrollen hatte spüren lassen, den Charakter eines Zwangs an. Es war, als flüsterte eine zweite Stimme unter dem, was sie las. Einmal sprang sie sogar vom Bett und drückte das Ohr an die bestickten Zeltwände. Sie liebte Geschichten wie jeder andere. Sie wusste, wie es war, auf die Folter gespannt zu werden und eine beinahe verstandene Schlussfolgerung an sich zerren zu spüren. Aber diesmal war es anders. Was immer sie auch zu hören glaubte: die zweite Stimme bereitete keine entscheidende Wendung vor, lieferte keine scharfsinnigen Texterläuterungen, sondern wandte sich an sie wie an ein Gegenüber.
    Die nächsten vier Tage waren zehrend. Es ging um Eifersucht, Mord und Wut, vor allem aber um Verdammnis… Die Erste Apokalypse überwältigte sie.
    Sie begriff schnell, dass ihr Wissen um die Alten Kriege trotz aller Gespräche mit Achamian bloß episodisch gewesen war. Die Kelmariade gab diesen Kriegen im Zuge der Lebensbeschreibung des Königs der Kûniüri Gestalt, denn sie begannen mit den verzweifelten Warnungen seines Beraters Seswatha und endeten mit dem Tod von Celmomas II. auf den Feldern von Eleneöt. Vieles deutete zunächst auf eine ganz gewöhnliche Geschichte hin: Seswatha war der Verkünder des Untergangs, denn nur er vermochte die sich mehrenden Zeichen richtig zu deuten. Celmomas hingegen war der überhebliche König, der nur wahrnehmen konnte, was ihm diente.
    Offenbar hatte lange zuvor ein verfolgter gnostischer Orden namens Mangaecca den alten Bann, mit dem die Magier der Nichtmenschen Min-Uroikas – die sagenhafte Festung der Inchoroi – verborgen hatten, gebrochen. Als sein Herr noch ein junger Mann war, waren Abgesandte des Nil’giccas, des Königs der Nichtmenschen von Ishterebinth, an Seswatha – den Kindheitsfreund und Wesir von Celmomas – herangetreten. Die Nichtmenschen befürchteten, dass die Inchoroi, die sie zur Zeit Cu’jara-Cinmois in die vier Ecken der Welt verjagt hatten, den Weg nach Min-Uroikas zurückgefunden und ihre grauenhaften Studien mithilfe der Mangaecca wiederaufgenommen hatten. Sie berichteten ihm von den Gerüchten, die sie ihren längst verstorbenen Gefangenen entlockt hatten. Sie erzählten ihm vom Nicht-Gott.
    So begann Seswatha den als Langwierige Auseinandersetzung bekannten Versuch, die Könige der alten Norsirai von der drohenden Apokalypse zu überzeugen.
    Obwohl keine Saga nach Seswatha benannt war, tauchte er – wie etwas, das im Treibgut der Ereignisse stets aufs Neue an die Oberfläche kommt – immer wieder auf. In der Kelmariade war er eine der Hauptpersonen, der treue Anhänger eines mächtigen und wankelmütigen Königs. Ähnlich war es in der Kayûtiade – dem Versepos über Nau-Cayûti, den jüngsten und ruhmreichsten Sohn von Celmomas –, in der Seswatha Lehrer und Ersatzvater war. Im Buch der Generäle, einer in Prosa verfassten Bestandsaufnahme der Ereignisse nach Nau-Cayûtis Tod, war seine Stimme in jeder Beratung die mächtigste, doch was er sagte, löste stets größte Verärgerung aus. In der Trisiade – der Verserzählung von der Zerstörung Trysës – war er ein

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