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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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fiel ihr die Tätowierung auf ihrem linken Handrücken ins Auge.
    Sie erschien ihr nun als eine Art Talisman oder Totem – ihre Version einer Ahnentafel. Die Frau, die in Sumna die Beine nackt aus dem Fenster hatte baumeln lassen, um Freier anzulocken, war nun eine Fremde für sie. Die Herkunft mochte sie noch verbinden – sonst fast nichts. Die Armut, der Geruch, die Erniedrigung und die Einfachheit jener Frau: all das schien gegen sie zu sprechen.
    Die Insignien ihrer Macht – von den Tatsachen ganz zu schweigen – hätten gereicht, die alte Esmenet vor Staunen in Tränen ausbrechen zu lassen. Im konzentrischen Schema der Nascenti und Richter, das Kellhus der alten Tempel- und Kulthierarchie aufgepfropft hatte, belegte sie als Prophetengemahlin und Intricati den zweitmächtigsten Kreis. Gayamakri war ihr ebenso Rechenschaft schuldig wie Gotian und Werjau… Selbst Potentaten wie Proyas oder Eleäzaras mussten das Kinn vor ihr beugen. Sie hatte die Gesetze des Jnan umgeschrieben! Und das – so hatte Kellhus ihr versprochen – war erst der Anfang.
    Dann war da die Stärke ihres Glaubens. Die alte Esmenet – die zynische Hure – hätte damit die größten Schwierigkeiten gehabt. Ihre Welt war dunkel und launisch gewesen, und nur jene hatten darin Bedeutung gehabt, die die schrecklichen Launen der Götter hatten erleiden müssen. Ihr altes Ich hätte den in diesen Launen verborgenen Appell an die Ehrfurcht nicht erfassen können, an eine Ehrfurcht, die nun jeden ihrer Herzschläge begleitete. Höchstens hätten sich ihr damals die Nackenhaare gesträubt, und unter Freunden hätte sie zu Zweifeln und Argwohn gemahnt. Sie hatte einfach mit zu vielen Priestern geschlafen.
    Die alte Esmenet hätte nie ein Verständnis akzeptiert, das von Vertrauen nicht zu unterscheiden war.
    Und dann die Schwangerschaft – der Gedanke, nicht bloß einen Sohn, sondern ein Schicksal im Schoß zu tragen… Wie hätte die Hure von damals gelacht!
    Am meisten aber hätte die alte Esmenet zweifellos ihr jetziges Wissen beeindruckt. Was das anging, war sie außergewöhnlich gewesen. Nur sehr wenige waren sich ihrer Unwissenheit so bewusst gewesen wie sie. Selbstgefälligkeit brachte die meisten dazu, nur zu schätzen, was sie schon wussten. Und da Bedeutung aus dem bereits Bekannten hervorging, glaubten sie immer, alles Wichtige zu wissen, um jede Frage nach der Wahrheit zu beantworten. Ihre Ahnungslosigkeit ließ sie zu plumpen Gestalten werden.
    Die alte Esmenet dagegen hatte stets gewusst, dass ihre Welt trotz all ihrer Größe nur Lug und Trug war. Deshalb hatte sie ihre Freier von ihren Erfahrungen erzählen lassen und durch ihre Augen hindurch die verschiedensten Ecken der Welt gesehen. Und deshalb hatte sie Achamian als Zugang zur Vergangenheit benutzt. Und nun Kellhus…
    Er hatte die Welt von Grund auf neu geschrieben. Eine Welt, in der alle Menschen Sklaven der Wiederholung und des Zwillingsübels aus Überlieferung und Begehren waren. Eine Welt, in der Überzeugungen den Mächtigen dienten, nicht der Wahrheit. Die alte Esmenet wäre erstaunt, ja empört gewesen, doch letztlich hätte sie zu glauben begonnen.
    Die Welt hielt tatsächlich Wunder bereit – aber nur für diejenigen, die es wagten, alte Hoffnungen fahren zu lassen.
    Esmenet atmete tief ein und öffnete die Lederschnur der ersten Schriftrolle.
    Wie die Dritte Analyse des Menschengeschlechts waren auch die Sagas den Ungebildeten der niederen Stände bekannt, Menschen wie ihr also. Sie fand es seltsam, sich an die Vorstellungen zu erinnern, die sie von diesen Dingen gehabt hatte, ehe sie Achamian und Kellhus kennengelernt hatte. Der Alte Norden war ihr stets gewichtig und tiefgründig erschienen. Schon dieser Name hatte etwas seltsam Greifbares gehabt. Der Alte Norden lag wie kaltes Blei zwischen den anderen Namen, die sie kannte, und bezeichnete Verlust, Anmaßung und das unerbittliche Urteil der Zeit. Sie wusste vom Nicht-Gott, der Apokalypse und der Schicksalsprüfung, aber all das waren kaum mehr als Kuriositäten. Der Alte Norden war ein Ort – etwas, auf das sie zeigen konnte. Und irgendwie waren sich alle einig, dass er einer jener Begriffe war, dem – wie den Worten Scylvendi oder Stoßzahn – der Hautgout umfassenden Verhängnisses anhaftete. Die Sagas waren kaum mehr als ein Gerücht im Gefolge dieses Begriffs gewesen. Bücher waren gewiss schreckliche Dinge – aber doch nur so, wie Schlangen für Stadtbewohner schrecklich waren. Also etwas, über das

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