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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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waren. Und an der Spitze einer langen Gefangenenreihe stand – unglaublich! – eine Gestalt mit vernarbten Armen und küsste die Ferse eines ausländischen Königs.
    Ein Scylvendi aus einer anderen Zeit.
    »Weißt du eigentlich«, sagte eine Stimme, »dass ich sogar Mitleid hatte, als die Letzten deines Stamms am Kiyuth umkamen?« Es war die Stimme eines Menschen, der sich sehr gern reden hörte. »Nein…
    Mitleid ist nicht das richtige Wort – Bedauern, ja Bedauern. All die alten Mythen sind da zuschanden gegangen. Die Welt verweichlichte. Ich habe deine Landsleute sehr genau studiert und eure Geheimnisse und Verletzbarkeiten ermittelt. Schon als Kind wusste ich, dass ich euch eines Tages demütigen würde. Und da wart ihr dann! Winzige Gestalten in der Ferne, die tobten und schrien wie wild gewordene Affen. Das Volk des Kriegs! Und ich dachte: ›Es gibt nichts Starkes auf der Welt – nichts, was ich nicht besiegen könnte.‹«
    Cnaiür keuchte und versuchte, seine Tränen wegzublinzeln. Er lag am Boden, und seine Arme waren so stramm gefesselt, dass er sie kaum spürte. Ein Schatten beugte sich über ihn und wischte ihm das Gesicht mit einem kühlen, feuchten Tuch ab. Wer war das?
    »Aber du«, fuhr der Schatten fort und schüttelte den Kopf, als habe er ein liebenswertes Kind vor sich, das ihn dennoch zur Raserei bringen konnte. »Du…«
    Cnaiürs Blick klärte sich, und er konnte die Umgebung erkennen. Er lag in einem Zelt, dessen Leinwände über ihm spitz zusammenliefen. In der Ecke lag ein blutverschmierter Haufen: sein Kettenhemd und die übrige Rüstung. Der Mann, der sich um ihn kümmerte, stand vor einem Tisch mit vier Klappstühlen. Dem Glanz seiner Rüstung und seiner Waffen nach musste es sich um einen Offizier handeln. Der blaue Umhang wies ihn als General aus…
    Der Mann wrang über einer Kupferschüssel neben Cnaiürs Kopf rosafarbenes Wasser aus. »Die Ironie«, sagte er gerade, »liegt darin, dass du unwichtig bist. Das Kaiserreich hat nur eine Sorge: den Anasûrimbor, diesen falschen Propheten. Falls du überhaupt Bedeutung hast, dann allein durch ihn.« Er schnaubte. »Das habe ich gewusst und mich trotzdem von dir provozieren lassen.« Das Gesicht verdüsterte sich einen Moment. »Es war ein Fehler, wie ich inzwischen erkannt habe. Was wiegen schon Misshandlungen im Verhältnis zu Ruhm?«
    Cnaiür funkelte den Fremden an. Ruhm? Es gab keinen Ruhm.
    »So viele sind tot«, sagte der Mann wehmütig. »Hast du die Strategie erdacht? Hast du Löcher in die Mauern schlagen lassen und uns gezwungen, dich und deine Ratten in eure Gänge zu jagen? Bemerkenswert. Ich wünschte beinahe, du wärest am Kiyuth euer Oberbefehlshaber gewesen. Dann wüsste ich es, stimmt’s?« Er zuckte die Achseln. »So beweisen sich die Götter, nicht wahr? Mit dem Sieg über die Dämonen?«
    Cnaiür erstarrte. Unwillkürlich durchfuhr es ihn.
    Der Mann lächelte. »Ich weiß, dass du nicht menschlich bist. Und ich weiß, dass wir einander ähnlich sind.«
    Cnaiür wollte etwas sagen, konnte aber nur krächzen. Er fuhr mit der Zunge über verschorfte Lippen und schmeckte Kupfer und Salz. Mit besorgtem Stirnrunzeln hob der Mann eine Karaffe und goss ihm Wasser in den Mund.
    »Bist du ein Gott?«, flüsterte Cnaiür heiser.
    Der Mann stand auf und sah ihn seltsam an. Laternenlicht glitt wie Tropfen über die Figuren, die in seinen Brustharnisch getrieben waren. Seine Stimme klang verärgert. »Ich weiß, dass du mich liebst… Menschen schlagen oft, wen sie lieben. Wenn ihnen die Worte ausgehen, lassen sie die Fäuste sprechen… Das habe ich oft beobachtet.«
    Cnaiür ließ den Kopf zurückfallen und schloss vor Schmerz die Augen. Wie war er hierher gekommen? Warum war er gefesselt?
    »Und ich weiß«, fuhr der Mann fort, »dass du ihn hasst.«
    Ihn. Der Nachdruck, mit dem er dieses Wort ausgesprochen hatte, war unmissverständlich: Er meinte den Dunyain und betrachtete ihn zweifellos als seinen Feind. »Ich kann nur abraten, die Waffen gegen ihn zu erheben«, brachte Cnaiür mühsam hervor.
    »Warum das?«
    Cnaiür wandte ihm blinzelnd den Kopf zu. »Weil er die Herzen der Menschen kennt. Indem er ihre Motive erfasst, kann er ihre Ziele manipulieren.«
    »Selbst du hast dich also diesem grassierenden Wahn unterworfen!«, stieß der namenlose General hervor. »Religion…« Er wandte sich zum Tisch und goss sich etwas ein, das Cnaiür vom Boden aus nicht erkennen konnte. »Weißt du, Scylvendi, ich glaubte, in dir

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