Der Tee der drei alten Damen
Wirtshaus, in welchem Madge mit Thévenoz zu Nacht gegessen hatte, nahmen einen Feldweg, der sie in die Wälder führte, die Laubwälder, die sich ausdehnen, weit und flach, bis zur savoyischen Grenze. Besonders in der Woche werden diese Wälder wenig von störenden Menschen heimgesucht. In einer Lichtung lagerten sie sich, durch die Stämme war der Jura zu sehen, mäßig gezackt, wie ein abgesplittertes Stück Rauchglas. Wie winzige Flugzeuge ratterten schwarze Heuschrecken über die Grashalme, hatten plötzlich rote Tragflächen und die Mücken spannen seltsame Tongewebe; Natascha zog sich hinter einem Busch aus, trat hervor, in einem Badeanzug. Ihr Körper war dunkelbraun.
Als Jakob gestand, er trage auch immer eine Badehose in der Tasche, wurde er gelobt und aufgefordert, sich auch von der Sonne bescheinen zu lassen. Die Sonne scheine nämlich auch für kleine Bürger, wie er einer sei. Aber dann schämte sich Jakob, denn er kam sich lächerlich vor, viel zu knochig, er ärgerte sich über seine dünnen Waden und bedauerte innerlich, in der letzten Zeit zu wenig geturnt zu haben.
»Wie ein Knochengerüst seh ich aus«, klagte er, »und du wirst dich sicher über mich lustig machen.«
Und er versuchte zaghaft, Nataschas runde Schulter zu streicheln. Die Haut war, trotz ihrer Bräune, sehr kühl. Natascha rückte nicht weg. Aber sie blickte ernst und ein wenig traurig in den Himmel, der aus einem sehr zarten blauen Stoff war.
»Wir müssen vernünftig sein, kleiner Junge«, sagte sie, »wir haben viel zu besprechen, und du mußt mir helfen. Dein Bruder ist doch Advokat?«
Helfen zu müssen, schien Jakob sehr schön, er stützte den langen Schädel (und die Haare darauf ringelten sich feucht) auf die geballten Fäuste und blickte aufmerksam auf zu der Frau. Natascha erzählte, zuerst in den Himmel hinein, dann drehte sie sich auf die Seite, es war, als würden ihre Blicke angezogen von den aufmerksam auf sie gerichteten Augen. Und so kam es, daß gerade derjenige, der für die geheimnisvollen Vorgänge der letzten Wochen das geringste Interesse besaß, zuerst einen Teil der Wahrheit erfuhr.
»Weißt du«, begann Natascha, »ich bin gar nicht Sekretärin bei der russischen Delegation, sondern eine Agentin, eine Spionin.«
Jakob Rosenstock verzog das Gesicht; die Tatsache, daß seine Freundin eine Spionin war, paßte nicht in sein Weltbild: das war augenblicklich begrenzt von den Versen einiger Dichter vom Ende des vorigen Jahrhunderts, und in diesen Versen war eine gläserne Wirklichkeit aufgebaut worden, in der nackte Tatsachen, politische, materialistische, keinen Platz finden konnten. Aber schließlich war Natascha kein ätherisches Wesen, keine ferne Prinzessin, und Jakob liebte an ihr vielleicht gerade das, was ihn hätte stören sollen: das Robuste, das Robbenhafte. Darum war eigentlich gar nichts zu verzeihen. Sie war eine Spionin, nun gut, es schmeckte nach Hintertreppenroman, aber eigentlich nur das Wort, denn die Frau, diese Natascha, war ein einfacher Mensch, vielleicht hatte sie ihren Beruf aus Idealismus ergriffen. Und der politische Idealismus hat mit dem ästhetischen doch vieles gemein. Vor allem wohl den Aufenthalt in einer selbsterbauten, unsicheren Welt.
Übrigens war es schön in der Sonne, das Gras war trocken, es roch nach zerriebenen Minzenblättern, Ameisen und Käfer trieben auf den Gliedern der beiden Liegenden geologische Studien. Man wußte, in der Ferne war der See, es war schön, sich nach seiner Kühle zu sehnen. Irgendwo gab es auch noch eine Stadt, mit einer Schule darin, an der man eine Prüfung bestehen sollte, aber das war nicht wichtig, und diese Tatsache vergaß man besser. Jakob nahm Nataschas Hand, legte seine Wange darauf und sagte still und ergeben:
»Also, du bist eine Spionin? Wenn schon.«
»Und ich arbeite«, fuhr Natascha fort, »mit einem Agenten zusammen, dessen Namen nichts zur Sache tut.«
»Schon lange?«
»Es werden bald vier Jahre sein.«
»Dann bist du natürlich seine Geliebte«, stellte Jakob ruhig fest, aber diese Ruhe war doch nur scheinbar. Es tat ganz abscheulich weh, in der Magengrube, und in seine Augen traten Tränen, so, als hätte er an einer Ammoniakflasche gerochen.
Zuerst wollte Natascha lachen, unterließ es dann aber. Sie hob langsam die Hand, auf der Jakobs Wange lag, und damit seinen Kopf, küßte des Jungen Augen und ließ den Kopf sanft auf ihre Brust sinken. Jakob fand, es liege sich da sehr weich, er streckte sich und seufzte
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