Der Tee der drei alten Damen
habe soviele derartige Szenen erlebt, daß ich mit der Zeit unempfindlich geworden bin. Glaubst du, daß eine Operationsschwester Mitleid mit jedem Patienten haben kann, der unter dem Messer stöhnt? Das sind Reaktionen, denkt sie vielleicht, und ich denke das gleiche. Ich saß daneben, mit meinem Block auf den Knien und wartete, bis mir Baranoff das Zeichen zum Nachschreiben geben würde. Denn das alles war ja nur die Einleitung. Dann kam der dritte Schlag. Baranoff warf dem Professor vor, er habe an seinen Schülern, und ohne deren Wissen, mit Giften herumexperimentiert (das stimmt nämlich, und zwei davon waren einmal ziemlich krank geworden, aber ohne den Zusammenhang zu ahnen). Aber, daß jemand davon wußte, erschütterte den Professor so sehr, daß er in ein haltloses Weinen ausbrach. Baranoff ließ die Krise vorübergehen. Da tat er mir zum ersten Male leid, denn plötzlich legte der alte Mann seinen Kopf an meine Hüfte – ich stand neben ihm, der saß, – so, als ob er Schutz suchen wollte bei mir und ich hab ihm, ganz ohne es zu wollen, das Haar gestreichelt.«
»Du bist doch ein guter Kerl, Natascha«, sagte Jakob und drückte seine Lippen auf die weiche Haut der Ellbogenbeuge. Aber seine Freundin wehrte ab.
»Das sind Sentimentalitäten, aber es ist eben immer so: bei den ärgsten Greueln bleibt man kalt, aber wenn plötzlich an ein tiefes Gefühl appelliert wird, ist man hilflos und leidet mit. Aber Baranoff wurde ungeduldig. ›Also, hören Sie‹, sagte er scharf – und da fuhr der Professor zurück und packte die Armlehnen seines Stuhles, wie ein Patient, der sich beim Zahnarzt auf das Ausreißen eines Zahnes vorbereitet – ›wir haben in Erfahrung gebracht, daß der indische Delegierte, bei dem Ihr Schüler Crawley Sekretär ist, die Ausarbeitung seiner Vertragsentwürfe eben diesem Crawley überläßt. Nun scheint sich aber Crawley mehr mit Psychologie als mit Diplomatie zu beschäftigen. Wir aber brauchen die Vertragsentwürfe, verstehen Sie? Nun werden Sie Crawley erzählen, daß Sie im Begriffe seien, Ihre Notizen zu sammeln und Sie möchten diese Arbeit gleichzeitig in französischer und englischer Sprache herausgeben. Dazu aber bedürften Sie seiner Mithilfe. Er wird Ihnen einwenden, daß er von seinem Vorgesetzten zu sehr in Anspruch genommen würde. Da sagen Sie dann, Sie wüßten ihm eine gute Entlastung. Sir Bose gebe ihm doch seine Entwürfe immer in Stichworten, die könne er doch einem andern schnell diktieren. Sie, Professor, wüßten einen vertrauenswürdigen Menschen, der ihm, Crawley, einen Teil der Arbeit abnehmen würde. Und Sir Bose brauche ja von der ganzen Geschichte nichts zu erfahren. Der Vertrauensmann, den Sie ihm empfehlen werden, wird seine Instruktionen von mir erhalten. Sie brauchen sich dann um die ganze Geschichte nicht mehr zu kümmern.‹ – ›Und wer soll dieser Vertrauensmann sein?‹ fragte der Professor. ›Ein gewisser Nydecker‹, sagte Baranoff, ›ein ehemaliger Staatsangestellter, der augenblicklich arbeitslos ist.‹ – ›Nydecker?‹ fuhr der Professor auf. – ›Kennen Sie ihn denn?‹ – Der Professor schwieg, und Baranoff wollte nicht weiter fragen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er mehr Interesse gezeigt hätte. ›Wenn Sie das zustande bringen, Professor, so zahlen wir Ihnen vorläufig 5000 Franken, um aus Ihren ärgsten Schulden herauszukommen. Sobald wir den wichtigsten Vertrag in Händen haben, stehen Ihnen weitere 5000 zur Verfügung.‹«
Jakob seufzte schwer auf. Es schien ihm, als habe die Sonne ihre ganze Helligkeit eingebüßt. Die Frau neben ihm war ihm fremd und verhaßt, er starrte sie an, und sie fühlte den Haß. Aber sie war auf Tapferkeit trainiert und außerdem hatte sie noch Trümpfe in der Hand, man konnte sie vielleicht psychologische Trümpfe nennen, von denen der naive Junge nichts wußte.
»Nachdem Baranoff seine Rede gehalten hatte«, fuhr sie fort, »schwieg er. Der Professor saß steif in seinem Lehnstuhl, sein Bart zitterte. ›Mein Herr‹, sagte er, ›was wagen Sie mir vorzuschlagen? – Ich soll einen ahnungslosen Gentleman (er sagte Gentleman), der nicht nur mein Schüler ist, sondern auch noch Vertrauen zu mir hat, einfach verraten?‹ – ›Professor‹, antwortete ihm Baranoff, ›Sie verwechseln die Zeiten. Wir leben jetzt im dritten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts und nicht mehr am Ausgang des neunzehnten. Damals hat man noch Phrasen gemacht. In Ihren moralisierenden Broschüren
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