Der Tee der drei alten Damen
kleiner Richter war. Und als der junge Anwalt im Auftrag seines Mandanten auf den Busch klopfte, wissen Sie, wer zum Vorschein kam?«
»Frau de Morsier«, sagte O'Key.
»Ganz richtig, die Bohnenstange im violetten Seidenkleid. Unglaublich! Nicht? Es kam natürlich zu keiner Verhaftung. Frau de Morsier ging aus ›Gesundheitsrücksichten‹ ein halbes Jahr in ein Sanatorium, und de Morsier avancierte zum Staatsanwalt. Sie begreifen, er wußte zuviel. Er war es gewesen, der seine Frau mit Stoff versorgt hatte. Und nun kann ich den Gedanken nicht los werden, daß diese Frau de Morsier auch hinter der Affäre mit dem Professor steckt. Ich habe mit dem Untersuchungsrichter gesprochen. Er meinte, wie ich, daß wir durchaus keine Beweise gegen den Professor hätten. Tatsächlich, was haben wir gegen ihn? Die Karte, die wir in Crawleys Rockfutter gefunden haben, die Zeugenaussage, daß er morgens um halb fünf Uhr gesehen worden ist, als er aus dem Laden Eltesters kam, daß er sich viel mit Toxikologie beschäftigt hat… Sonst noch etwas? Ich wüßte nicht. A propos Toxikologie. Wir haben das Gutachten des Gerichtschemikers über den Mageninhalt der beiden Vergifteten. In beiden Fällen wurde das Vorhandensein eines Dekokts, eines Tees also, festgestellt, der, wie der Experte schreibt, wahrscheinlich aus den Blättern des Bilsenkrautes hergestellt worden ist. Aber, O'Key, wie stellen Sie sich das vor: daß man einen Menschen zwingen kann, ein solches Gebräu hinunterzuschlucken?«
»Da sehe ich wirklich keine Schwierigkeit«, sagte O'Key. »Die Welt des Alltags befriedigt die wenigsten Menschen. Sie müssen einen Ausweg suchen, um sie zu verlassen. Welcher Weg ist bequemer als der des Rausches? Wer macht denn heutzutage die besten Geschäfte? Außer den Waffen- und Munitionslieferanten natürlich. Die Lieferanten von Betäubungsmitteln, seien sie nun Kokainschieber oder Schnapsbrenner. Und glauben Sie nicht, Kommissar, daß wir auch die vielen Sekten in die Kategorie der Rauschmittel einreihen können? Denken Sie an die Christian Science, an die Theosophie. Ihre Gründer sind alle schwerreiche Leute geworden. Wir haben die Vernunft satt, der Verstand hat uns Bauchgrimmen gemacht. Wir wollen aus unserer Welt heraus.«
»Ja, ja, da können Sie recht haben. Und all das Teufels- und Hexenunwesen, das hier in Genf umgeht, könnten wir auch dazuzählen, nicht wahr?«
»Selbstverständlich. Aber ich würde gern noch hören, was Sie von dieser Jane Pochon wissen. Hat diese Frau nie mit der Polizei zu tun gehabt?«
»Doch, doch«, sagte Kommissar Pillevuit. »Doch wir wollen noch einen Kaffee mit Rum genehmigen. Dann will ich Ihnen erzählen.« Der Kommissar nahm einen Schluck des heißen Getränkes, teilte den Vorhang seines Bartes und begann zu erzählen.
Vor etwa zwei Jahren habe bei der Witwe Pochon der Kassierer einer Bank gewohnt, ein ruhiger, unauffälliger Mensch, der das Vertrauen seiner Vorgesetzten voll und ganz gehabt habe. Eines Tages habe sich dieser Kassierer, Corbaz habe er übrigens geheißen, krank gemeldet und sei am Morgen nicht zum Dienst erschienen. Gegen zwei Uhr nachmittags aber sei er dann in der Bank aufgetaucht, habe seinen Kollegen mitgeteilt, der Direktor habe ihm sagen lassen, er müsse mit 30 000 Fr. in Banknoten eine Zahlung ausführen. Nach den späteren Aussagen, schien Corbaz wohl ruhig, aber ein wenig abwesend. Dem Schalterbeamten fiel insbesondere der Blick Corbaz' auf, der starr war und seltsam ausdruckslos. Der Schalterbeamte schrieb diesen Eindruck den unmäßig vergrößerten Pupillen zu. Corbaz ging ans Telephon, sprach mit dem Direktor, die Umstehenden hörten ihn sagen: »Also dreißigtausend Franken, jawohl, Herr Direktor.« Dann packte Corbaz die Summe in eine Mappe, grüßte zerstreut und ging fort. Am nächsten Morgen wurde der Bank von der Direktion der Anstalt Bel-Air mitgeteilt, der Kassierer Corbaz sei in der Nacht als Notfall eingeliefert worden, gebracht habe ihn seine Wirtin. Die Bank habe natürlich Anzeige erstattet, und er, Kommissar Pillevuit, habe die Untersuchung geführt. Damals habe er zum ersten Male Einblick in die Wohnung der Jane Pochon genommen.
»Sie hat in der Rue du Marché, gerade vor der Place de la Fusterie, in einem alten Hause gewohnt«, erzählte Pillevuit, »ich glaube, daß sie jetzt noch dort wohnt. Man muß durch einen dunklen Hausgang, dann kommt man in einen großen, viereckigen Hof. Die Holztreppen, die in die oberen Stockwerke führen, sind
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