Der Tee der drei alten Damen
eine kleine Autotour nach Savoyen gemacht, dann wäre mir vieles erspart geblieben.« Pillevuit seufzte gründlich und zerstieß den Roquefort in kleinste Krümel, die er dann mit Brot auftupfte.
O'Key bewahrte ein teilnahmsvolles Schweigen, und Pillevuit fuhr fort:
»Unser Staatsanwalt, René Gontran Philippe de Morsier, ist übergeschnappt. Ja. Aber behalten Sie das für sich. Er hat getobt, wie ein Teufel, der sich aus Versehen in ein Weihwasserbecken gesetzt hat. Er hat mir Grobheiten gesagt, wie sie mir noch kein Mensch zu sagen gewagt hat. Und warum? Weil wir die Jane Pochon einem Verhör unterzogen haben und – jetzt hören Sie gut zu – weil wir Professor Dominicé noch nicht verhaftet haben! Was sagen Sie jetzt?«
»Nichts«, antwortete O'Key still. »Ich weiß es schon. Ich habe den Herrn Staatsrat heute morgen zufällig getroffen, und er teilte mir diese Tatsache mit. Auch, daß er den Procureur überredet habe, die Verhaftung noch einen Tag aufzuschieben.«
»Die Tatsache, daß ich den Professor nicht verhaften soll, bedrückt mich nicht sehr«, sagte Pillevuit, »mein Gott, Berühmtheiten! Hohe Namen! Er wäre nicht der erste, den ich auf höheren Befehl aus seiner Villa in Champel oder aus seiner Wohnung in der Rue de l'Hôtel de Ville geholt habe, um ihm in St. Antoine ein Einzelzimmer anzuweisen. Sie wissen, O'Key, wir haben diverse Skandale gehabt, Finanzskandale, und da geht manches. Aber es widerstrebt mir einfach, den Professor zu verhaften. Und ich kann Ihnen nicht einmal genau erklären, warum. Ich habe ihn gern, den alten Herrn, früher, als ich noch jung war, habe ich ihn sogar verehrt. Er ist eine Persönlichkeit und ein anständiger Kerl. Sie müssen nämlich wissen, daß de Morsier eine Denunziation erhalten hat, er hat es mir erzählt, gesehen habe ich den Wisch nicht, und dieser Brief, vielleicht waren es auch Akten, hat ihn so in Harnisch gebracht. Aber mir gefällt die ganze Sache nicht. Ich habe immer den unangenehmen Eindruck, daß die Frau des Staatsanwaltes dahinter steckt. Kennen Sie Frau de Morsier?«
»Bedaure, ich habe nie die Ehre gehabt.«
»Eine Bohnenstange«, sagte Kommissar Pillevuit, »lang, lang, lang. Auch das Gesicht ist lang und wirkt wie das Knochengerüst eines Pferdeschädels. Signalement: Augen farblos, Nase dünn, Ohren klein. Trägt violettes Seidenkleid und einen großen Hut mit Pleureusen. Dazu hohe Schnürschuhe mit niederen Absätzen. Reich, darum hat sie de Morsier auch geheiratet. Macht viel in Religion und Mystik. Jetzt in Spiritismus und solchen Sachen. Sehr befreundet mit Jane Pochon und einer Dichterin, die wie eine französische Bühnengröße heißt, Agnés Sorel. Die drei Damen versammeln sich jede Woche zwei-, dreimal und trinken zusammen Tee. Bald hier, bald dort. Was haben Sie, O'Key, ist Ihnen schlecht?«
»Alte Damen, die Tee trinken…«, murmelte O'Key.
»Nun, ja«, sagte der Kommissar, »was ist daran so Welterschütterndes, daß Sie Ihr Mineralwasser pur hinunterschlucken? Das einzig Merkwürdige an der Sache finde ich, daß diese Jane Pochon dabei ist. Eine Frau aus dem Volke, eigentlich, frühere Verkäuferin, aber sie hat ja mediale Fähigkeiten, sagt man, – gehabt wenigstens. Und mit Diplomaten verkehrt sie auch, wie wir erfahren haben. Nein, O'Key, was mich an der ganzen Sache aufregt, ist etwas anderes. Es hat da vor Jahren eine sehr dunkle Geschichte gegeben, bei der wenigstens Frau de Morsier sicher beteiligt war. Angesehene Leute, meist reiche, – Namen ersparen Sie mir, – es waren Männer und Frauen aus den exklusivsten Kreisen darunter (und nirgends ist ja die Aristokratie exklusiver als in einer Demokratie) erhielten Erpresserbriefe ins Haus. Nun, das sind Dinge, die vorkommen. Aber immer handelten die Briefe von Affären, die die Betreffenden mit der Justiz gehabt hatten, die dann niedergeschlagen worden waren, aus Freundschaft, aus Toleranz, um der Oppositionspresse keine Waffen in die Hand zu geben. Verstehen Sie? Und gerade mit der Veröffentlichung jener belastenden Tatsachen wurde gedroht. Die Leute zahlten. Bis es einem alten Herrn, einem Junggesellen, zu dumm wurde und er mit einem dieser Briefe zu einem jungen Advokaten ging.«
»Und wie hieß dieser junge Advokat?«
»Ja, das war das Sonderbare an der ganzen Geschichte. Er hieß Isaak Roséne, wenigstens nennt er sich jetzt so, damals hieß er noch einfach und simpel Rosenstock, ja. Aber er war der leibliche Neffe unseres de Morsier, der damals noch
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