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Der Tempel der vier Winde - 8

Der Tempel der vier Winde - 8

Titel: Der Tempel der vier Winde - 8 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Goodkind
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grausamsten behandelt. Sie warfen ihr im Vorübergehen spöttische Seitenblicke zu, nannten sie untereinander ›alte Jungfer‹ oder ›altes Weib‹, und das gerade laut genug, daß sie es hören konnte.
    Clarissa hatte nie geplant, in diesem Alter noch ohne Mann zu sein. Sie hatte immer eine Familie gewollt. Sie war nicht recht sicher, wieso das Leben an ihr vorübergegangen war, ohne ihr die Gelegenheit zu geben, einen Gatten zu finden.
    Dabei war sie nicht häßlich, aber sie wußte, daß sie bestenfalls nicht mehr als gewöhnlich war. Ihre Figur war ganz ordentlich, Sie hatte Fleisch auf den Knochen. Ihr Gesicht war weder entstellt noch runzelig oder grotesk. Wann immer sie nachts an einem Fenster vorüberging und ihr Konterfei betrachtete, fand sie nicht, daß ihr eine häßliche Frau entgegenstarrte. Sie wußte, daß dieses Gesicht nicht unbedingt zu Balladen inspirierte, abstoßend war es jedoch nicht.
    Da es hingegen mehr verfügbare Frauen als Männer gab, reichte es einfach nicht, ›nicht häßlich‹ zu sein. Die hübschen, jüngeren Frauen verstanden das nicht: Sie hatten Männer im Überfluß, die ihnen den Hof machten. Den älteren Frauen war es durchaus bewußt, und sie waren freundlicher, trotzdem galt sie in ihren Augen als Pechvogel. Außerdem hatten sie Angst, übermäßig freundlich zu sein, um sich nicht mit jenem unheimlichen Makel anzustecken, der eine Heirat verhinderte.
    Jetzt wollte sie bestimmt kein Mann mehr: sie war zu alt. Zu alt, wie die Männer sicherlich befürchteten, Söhne zu gebären. Sie war in der Falle der Zeit gefangen, allein und als alte Jungfer. Ihre Arbeit füllte ihre Zeit aus, machte sie aber bestimmt nicht so glücklich wie eine Familie.
    So sehr die Sticheleien dieser jungen Frauen schmerzten und so gern sie gesehen hätte, daß sie einmal am eigenen Leib diese Demütigung erfahren würden, das hatte sie ihnen nicht gewünscht.
    Lachend zerrissen die Angreifer die Leibchen ihrer eleganten Kleider und musterten die jungen Frauen wie Vieh.
    »Gütiger Schöpfer«, betete sie weinend, »bitte laß dies nicht nur deshalb geschehen, weil ich wollte, daß sie die Scham der Demütigung kennenlernen. Das habe ich ihnen nicht gewünscht. Gütiger Schöpfer, ich bitte dich, mir zu verzeihen, daß ich ihnen jemals etwas Schlechtes gewünscht habe. Das wollte ich nicht, ich schwöre es bei meiner Seele.«
    Clarissa stockte der Atem. Sie beugte sich aus dem kleinen Fenster, um besser sehen zu können, als sie einen Trupp Angreifer gewahrte, der mit einem Rammbock voranstürmte. Sie verschwanden unter einem Mauervorsprung unter dem Fenster.
    Sie spürte, wie das Gebäude von einem dumpfen Schlag widerhallte. Die Menschen im großen Saal schrien. Wieder ein dumpfer Schlag. Dann noch einer, woraufhin sie hörte, wie Holz zersplitterte. Unten brach ein Höllenspektakel los wie in der Unterwelt selbst.
    Sie entweihten die Abtei des Schöpfers. Genau wie der Prophet es vorhergesagt hatte.
    Clarissa krallte beide Hände über ihrem Herz in ihr Kleid, als sie hörte, wie das Gelächter unten von neuem einsetzte. Unkontrollierbar schüttelte sie sich. Bald würden sie die Stufen heraufkommen und sie finden.
    Was würde mit ihr geschehen? Würde sie mit einem Ring durch die Lippe gezeichnet und versklavt werden? Hätte sie den Mut zu kämpfen und getötet zu werden, anstatt sich zu unterwerfen?
    Nein. Sie wußte, die Antwort lautete nein. Wenn es hart auf hart käme, würde sie überleben wollen. Sie wollte nicht abgeschlachtet werden wie diese Menschen auf dem Platz unten oder wie der Blödmann Gus. Den Tod fürchtete sie mehr als das Leben.
    Ihr stockte der Atem, als die Tür mit einem Knall aufgestoßen wurde.
    Der Abt platzte in das kleine Zimmer. »Clarissa!« Er war weder jung noch körperlich fit und vom hastigen Treppensteigen außer Atem. Seine Leibesfülle ließ sich unter seinem mattbraunen Gewand nicht verheimlichen.
    Sein rundes Gesicht war so aschfahl wie das einer drei Tage alten Leiche.
    »Clarissa! Die Bücher!« keuchte er. »Wir müssen fort. Müssen die Bücher mitnehmen. Nehmt sie und versteckt Euch!«
    Sie blinzelte ihn verständnislos an. Es würde Tage dauern, das Zimmer voller Bücher einzupacken, und mehrere Karren wären nötig, sie abzutransportieren. Es gab keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Es gab keinen Ort, wo man hätte hinlaufen können. Wie sollte man durch die nachdrängenden Reihen der Angreifer entkommen können?
    Die Anweisung war lächerlich,

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