Der Tempel der vier Winde - 8
Kleider.«
»Wahre Schönheit kommt von innen.« Er zwinkerte. »Schlaft gut, Clarissa. Ich habe einen Schutzschild vor der Tür angebracht, damit niemand hereinkommen kann. Fühlt Euch wie zu Hause, hier seid Ihr sicher.« Leise schloß er die Tür.
Ein warmes Glühen vom Wein auf den Wangen, schlenderte Clarissa gemächlich durchs Zimmer und betrachtete die elegante Einrichtung. Sie strich mit den Fingern über die silbernen Einlegearbeiten auf den kleinen Tischchen neben dem Bett. Sie berührte das geschliffene Glas der Lampen. Sie fuhr mit der Hand über die kunstvoll gewobenen Bettdecken, als sie sie zurückschlug.
Nachdem die Schnüre des Korsetts gelockert waren, konnte sie endlich wieder durchatmen. Sie ließ das Oberteil ihres Kleides von den Schultern gleiten. Die noch immer von unten drückenden Stifte hielten das Kleid über ihrem Busen fest. Sie hockte auf der Bettkante und versuchte, an die Knöpfe an ihrem Rücken heranzukommen. Einige von ihnen saßen zu weit oben. Verzweifelt in sich zusammensinkend, beschloß sie, ihre neuen Schuhe auszuziehen, die aus geschmeidigem, angerauhtem Leder geschustert waren. Sie rollte ihre Strümpfe herunter und bewegte, froh, sie befreit zu haben, ihre Zehen.
Clarissa dachte an zu Hause. Sie mußte an ihr gemütliches Bett denken, klein, wie es war. Sie vermißte ihr Zuhause, nicht weil sie dort glücklich gewesen war, sondern einfach, weil es ihr Zuhause war und sie nichts anderes kannte. So prunkvoll hier auch alles sein mochte, auf sie wirkte es kalt. Kalt und beängstigend. Sie befand sich an einem Ort, der ihr fremd war, und nach Hause konnte sie nicht mehr zurück.
Plötzlich fühlte sich Clarissa sehr einsam. Wenn sie mit Nathan zusammen war, gab ihr sein Selbstvertrauen Trost. Er wußte stets, wohin er ging, was er wollte und was er sagen mußte. Er schien nie von Zweifeln geplagt. Clarissa war voll davon, jetzt, da sie im Schlafzimmer alleine war.
Es war seltsam, aber sie vermißte Nathan mehr als ihr Zuhause, dabei befand er sich im Nachbarzimmer. Fast war Nathan jetzt ihr Zuhause.
Der Teppich fühlte sich unter ihren nackten Füßen gut an, als sie zur Tür hinüberging. Leise klopfte sie gegen die weiße Holztäfelung in der goldenen Umrandung. Sie wartete einen Augenblick, dann klopfte sie ein zweites Mal.
»Nathan?« rief sie leise.
Sie klopfte erneut und rief wieder seinen Namen. Da noch immer keine Antwort kam, öffnete sie die Tür einen Spalt breit und spähte hinein. Nur eine einzige Kerze zerriß das stille Dunkel.
Nathan befand sich wieder in einem seiner Trancezustände. Er saß in einem Sessel und starrte ins Leere. Clarissa blieb eine Weile in der Tür stehen und sah zu, wie er gleichmäßig atmete.
Als sie ihn das erste Mal steif und starren Blicks entdeckt hatte, war ihr angst und bange geworden. Er hatte sie jedoch damit beruhigt, er mache dies schon sein ganzes Leben lang. Damals, beim ersten Mal, war er nicht böse geworden, als sie ihn, im Glauben, etwas stimme nicht mit ihm, gerüttelt hatte.
Nathan würde nie böse auf sie sein. Er behandelte sie immer mit Respekt und Freundlichkeit – zwei Dinge, nach denen sie sich stets gesehnt, die sie aber von ihrer Familie nie bekommen hatte. Und dann traf sie einen Fremden, der diese Gefühle bedenkenlos verschenkte.
Clarissa rief ein drittes Mal seinen Namen. Nathan kniff die Augen zusammen und schaute zu ihr hoch.
»Alles in Ordnung?« fragte er.
»Ja. Hoffentlich störe ich Euch nicht in Euren Gedanken?«
Nathan tat ihre Besorgnis mit einer Handbewegung ab. »Nein, nein.«
»Ich dachte, vielleicht könntet Ihr mir helfen … mein Kleid auszuziehen? Ich komme nicht an die Knöpfe an meinem Rücken heran, außerdem hänge ich offenbar fest. Ich wollte mich nicht angezogen hinlegen und das Kleid ruinieren.«
Nathan folgte ihr ins Schlafzimmer. Sie hatte die Lampe auf dem Toilettentisch gelöscht, um nicht in Verlegenheit zu geraten. Nur die Lampe am Bett ließ ihn erkennen, was er tat.
Clarissa hielt ihr Haar mit beiden Händen zur Seite, während seine kräftigen Finger sich an den Knöpfen nach unten vorarbeiteten. Es war ein gutes Gefühl, ihn so nahe bei sich zu wissen.
»Nathan?« fragte sie leise, als er beim letzten Knopf auf ihrer Hüfte angelangt war.
Zur Antwort gab er einen fragenden Laut von sich. Sie hatte Angst, er könne fragen, was das klopfende Geräusch sei, und sie müsse antworten, es sei ihr Herz.
Clarissa drehte sich um. Dabei mußte sie das Kleid,
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