Der Tempel der vier Winde - 8
doch gar nicht aus. Eine Frau – kein junges, launisches Fräulein, sondern eine Frau in voller Blüte, eine elegante Frau von Rang – blickte ihr entgegen.
»Nathan«, hauchte sie, »mein Haar … so lang war mein Haar doch gar nicht. Wie hat die Frau, die es heute nachmittag frisiert hat, es länger machen können?«
»Oh, nun, das hat sie gar nicht. Ich habe dafür ein wenig Magie benutzt. Ich dachte, es sähe so besser aus. Ihr habt hoffentlich nichts dagegen?«
»Nein«, antwortete sie leise. »Es ist wunderschön.«
Man hatte ihr weiches braunes Haar zu Löckchen gedreht und zarte violette Bänder hineingeflochten. Sie wiegte den Kopf hin und her. Die Löckchen hüpften auf und ab und schwangen von einer Seite zur anderen. Clarissa hatte einmal eine Dame von hohem Rang in Renwold gesehen, die ihr Haar so wie sie getragen hatte. Sie hatte noch nie so schönes Haar gesehen. Und jetzt hatte Clarissa die gleiche Pracht auf dem Kopf.
Sie bestaunte sich im Spiegel. Ihre Gestalt war so … Wohlgestalt. All diese harten, engsitzenden Dinger unter ihrem Kleid hatten ihren Körper irgendwie umgeformt. Clarissa errötete, als sie bemerkte, wie ihr Busen sich nach oben drückte, fast unbedeckt, so daß er für aller Augen sichtbar war.
Natürlich war ihr immer klar gewesen, daß Frauen wie Manda Perlin nicht wirklich so gebaut waren, wie es schien. Ohne die Kleider waren deren Körperformen nicht viel anders als die jeder anderen Frau, nur hatte Clarissa nie gewußt, wieviel davon auf das Konto der Kleider ging, die diese attraktiven Damen trugen.
Im Spiegel, in diesem Kleid, das Haar auf diese Weise frisiert und mit der Schminke im Gesicht, war sie jeder einzelnen von ihnen ebenbürtig. Älter vielleicht, doch dieses Alter schien das, was sie vor sich hatte, nur noch zu unterstreichen, und verlieh ihm keineswegs etwas Verbrauchtes, Unansehnliches, wie sie immer geglaubt hatte.
Und dann entdeckte sie den Ring in ihrer Lippe.
Er war aus Gold, nicht aus Silber.
»Nathan«, fragte sie leise, »was ist mit dem Ring passiert?«
»Oh, richtig, der Ring. Nun, es wäre unklug, Euch mit einem Silberring in der Lippe als angebliche Konkubine des Kaisers auszugeben und seinen kleinen Kaisererben austragen zu lassen. Jeder weiß, daß der Kaiser nur Frauen mit einem Goldring in sein Bett befiehlt.
Außerdem seid Ihr fälschlicherweise mit einem Silberring markiert worden. Diese Männer waren einfach völlig blind.« Er machte eine großartige Handbewegung. »Ich habe selbstverständlich einen Blick für so etwas.« Er machte eine einladende Geste Richtung Spiegel. »Seht selbst. Diese Frau ist zu schön, um etwas anderes als einen Goldring zu tragen.«
Der Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenstarrte, kamen die Tränen. Clarissa wischte sich mit dem Finger vorsichtig über den unteren Rand des Lids. Sie fürchtete, die Schminke zu verwischen, die die Frau ihr aufgetragen hatte, während ihr Locken gedreht wurden.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Nathan. Ihr habt etwas Magisches bewirkt. Ihr habt eine einfache Frau in etwas…«
»… Wunderschönes verwandelt«, beendete er den Satz.
»Aber warum?«
Sein Gesicht nahm einen seltsamen Ausdruck an. »Seid Ihr so schwer von Begriff? Ich konnte es mir schließlich nicht erlauben, daß Ihr schlicht wirkt.« Er deutete mit einer schwungvollen Bewegung auf sich selbst. »Niemand würde glauben, ein so gutaussehender Mann wie ich würde sich mit einer weniger schönen Frau zeigen.«
Clarissa schmunzelte. Sie fand ihn gar nicht mehr so alt wie zu Anfang, als sie ihn kennengelernt hatte. Eigentlich machte er einen eleganten Eindruck. Elegant und vornehm.
»Danke, Nathan, daß Ihr an mich glaubt, und das in mehr als einer Hinsicht.«
»Mit Glauben hat das nichts zu tun, sondern mit dem Blick für das, was andere nicht bemerken. Jetzt werden sie es erkennen.«
Sie sah kurz zu dem Vorhang hinüber, hinter dem der Damenschneider verschwunden war. »Aber das ist alles so teuer. Das Kleid alleine würde mich fast einen Jahresverdienst kosten. Und all die anderen Sachen: die Speisen, Kutschen, Hüte, die Schuhe, die Frauen, die mein Haar und mein Gesicht zurechtgemacht haben. Das ist alles so teuer. Ihr werft mit dem Geld um Euch wie ein Prinz auf einer Urlaubsreise. Wie könnt Ihr Euch das nur leisten?«
Das schlaue Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück. »Im … Geldmachen bin ich gut. Ich kann gar nicht so viel ausgeben, wie ich mache. Zerbrecht Euch deswegen nicht
Weitere Kostenlose Bücher