Der Tempel der vier Winde - 8
den Kopf, das alles bedeutet mir nicht viel.«
»Oh.« Sie sah noch einmal in den Spiegel. »Natürlich.«
Er räusperte sich. »Was ich damit sagen will, ist, Ihr seid wichtiger als unbedeutende Gold- oder Geldangelegenheiten. Der Mensch ist bedeutender als derartige Überlegungen. Und wenn es meine letzte Kupfermünze wäre, ich würde sie nicht mit weniger Begeisterung oder größerem Bedacht ausgeben.«
Als der Damenschneider schließlich mit einer Auswahl phantastischer Kleider zurückkehrte, wählte Nathan eine Anzahl von ihnen aus, die sie anprobieren sollte. Clarissa ging mit ihnen ins Ankleidezimmer und probierte jedes einzelne mit der Hilfe der Frau des Schneiders an. Sie glaubte nicht, daß sie in der Lage gewesen wäre, auch nur eines von ihnen alleine zu binden, zu schnüren und zu knöpfen.
Nathan bedachte jedes Kleid, mit dem sie herauskam, mit einem Lächeln und erklärte dem Schneider, er werde es kaufen. Eine Stunde später hatte Nathan ein halbes Dutzend Kleider ausgewählt und dem Mann eine Handvoll Goldmünzen in die Hand gedrückt. Solange sie lebte, hatte sie sich keinen Ort vorstellen können, an dem ein solcher Reichtum herrschte, daß Kleider bereits fertig genäht waren. Dies war ein weiterer Anhaltspunkt dafür, wie sehr sich ihr Leben durch Nathan verändert hatte. Nur die sehr Reichen oder die Angehörigen des Königshauses kauften Kleider auf diese Art.
»Ich werde die nötigen Änderungen vornehmen, mein Herr, und Euch die Kleider ins Haus Wildrose schicken lassen.« Sein Blick zuckte hinüber zu Clarissa. »Vielleicht wünschen der Herr, daß ich einige von ihnen etwas weiter lasse, damit sie sich der werten Dame anpassen, wenn sie das Kind unseres Kaisers trägt?«
Nathan machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nein, nein. Ich mag es, wenn sie so gut aussieht wie irgend möglich. Ich werde eine Näherin beauftragen, sie weiter zu machen, sollte dies erforderlich werden, oder einfach andere kaufen, die ihr passen, wenn es soweit ist.«
Plötzlich war es Clarissa peinlich, daß dieser Damenschneider zu glauben schien, sie sei nicht nur eine Mätresse des Kaisers, sondern auch Nathans. Der Ring durch ihre Lippe, wenngleich er aus Gold war, kennzeichnete sie als Sklavin. Kind oder nicht, Goldring oder nicht, eine Sklavin bedeutete dem Kaiser wenig.
Nathan erklärte jedem dreist, er sei Kaiser Jagangs Generalbevollmächtigter, woraufhin sich alle unablässig verbeugten und ein Bein ausrissen. Clarissa war nichts weiter als ein Besitz, den der vertraute Generalbevollmächtigte des Kaisers mit diesem teilte.
Die Seitenblicke des Schneiders taten endlich ihre Wirkung. In seinen Augen war sie eine Hure. Vielleicht eine in eleganten Kleidern und vielleicht nicht aus eigenem Entschluß, aber nichtsdestotrotz eine Hure. Eine Frau, die Spaß daran hatte, mit eleganten Kleidern ausstaffiert und von einem wichtigen Mann im elegantesten Gasthaus der Stadt ausgehalten zu werden.
Allein die Tatsache, daß Nathan nicht so dachte, verhinderte, daß sie gedemütigt aus dem Geschäft herausrannte.
Clarissa ermahnte sich. Dies war eine Maskerade, die Nathan sich für sie ausgedacht hatte, damit sie in Sicherheit waren. Sie hinderte Soldaten, denen sie an jeder Wegbiegung begegneten, daran, sie in ein Zelt hineinzuzerren. Mißbilligende Blicke auszuhalten, das war in ihren Augen wirklich eine geringe Gegenleistung für das, was Nathan für sie getan, für den Respekt, den er ihr entgegengebracht hatte. Was Nathan dachte, zählte.
Außerdem war sie mißbilligende Blicke gewöhnt – Blicke, die bestenfalls mitleidig und schlimmstenfalls tadelnd waren. Niemand hatte sie je wohlwollend angesehen. Sollten diese Leute doch denken, was sie wollten. Sie wußte, daß sie etwas Lohnendes tat, und zwar für einen verdienstvollen Mann.
Clarissa schritt erhobenen Hauptes zur Tür.
Der Damenschneider verbeugte sich abermals, als sie auf die dunkle Straße hinaustraten und zur wartenden Kutsche hinübergingen. »Ich danke Euch, Lord Rahl. Vielen Dank, daß Ihr mir erlaubt habt, dem Kaiser auf meine bescheidene Art zu dienen. Die Kleider werden noch vor morgen früh geliefert, mein Wort darauf.«
Nathan entließ den Mann mit einem beiläufigen Wink.
Im schummerigen Speisesaal des eleganten Haus Wildrose saß Clarissa Nathan an einem kleinen Tisch gegenüber. Jetzt fielen ihr die verstohlenen Blicke auf, die ihr das Personal zuwarf. Sie setzte sich aufrechter hin, zog die Schultern zurück und lud sie
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