Der Tempel der vier Winde - 8
klingt bestimmt albern – so als sei ich ein mondsüchtiges Mädchen von zwölf Jahren.«
»Erzählt es mir einfach, Nadine.«
Nadine dachte einen Augenblick lang nach, schließlich seufzte sie. »Wahrscheinlich spielt es keine Rolle. Ich bekam diese … also ich weiß gar nicht, wie ich sie nennen soll. Ich sah Richard, oder besser, ich dachte, ich sähe Richard. Ich sah ihn aus den Augenwinkeln, drehte mich um, aber er war nicht da. So wie eines Tages, als ich im Wald unterwegs war und nach neuen Trieben suchte und ihn neben einem Baum stehen sah. Ich blieb also stehen, aber er war verschwunden.
Ich war jedesmal ganz sicher, daß er mich brauchte. Ich wußte nicht woher, trotzdem wußte ich es. Bestimmt steckte er in Schwierigkeiten. Daran hatte ich nie den geringsten Zweifel.
Ich erklärte meinen Eltern, daß Richard mich brauche und ich losziehen und ihm helfen müsse.«
»Und sie glaubten Euch. Sie glaubten an Eure Visionen? Sie haben Euch einfach aufbrechen lassen?«
»Na ja, ich habe es ihnen nie genau erklärt. Ich erzählte ihnen nur, Richard hätte eine Nachricht geschickt und brauche meine Hilfe und ich würde zu ihm gehen. Vermutlich habe ich, na ja, damit bei ihnen den Eindruck erweckt, ich wüßte, wohin ich ging.«
Allmählich dämmerte es Kahlan: Nadine schien niemandem je etwas ausführlich zu erklären. »Und dann erschien Shota?«
»Nein. Dann brach ich auf. Ich wußte, Richard brauchte mich, also machte ich mich auf den Weg.«
»Alleine? Ihr wolltet einfach losmarschieren und die gesamten Midlands nach ihm absuchen?«
Nadine zuckte verlegen die Achseln. »Auf die Idee, mich zu fragen, wie ich ihn finden wollte, bin ich gar nicht gekommen. Ich wußte, daß er mich brauchte, und ich hatte das Gefühl, es sei wichtig, daher zog ich los, um zu ihm zu gehen.« Sie lächelte, als wollte sie Kahlan beruhigen. »Ich ging geradewegs zu ihm – schnurgerade wie ein Pfeil. Es funktionierte alles wunderbar.« Ihre Wangen röteten sich. »Wenn man davon absieht, daß er mich nicht will, meine ich.«
»Nadine, hattet Ihr irgendwelche … seltsamen Träume? Damals oder jetzt?«
Nadine strich eine dicke Haarsträhne nach hinten. »Seltsame Träume? Nein, seltsame Träume nicht. Jedenfalls nicht seltsamer als andere Träume auch. Eben ganz normale Träume.«
»Was für ›normale Träume‹ habt Ihr?«
»Na ja, wenn man zum Beispiel träumt, man sei wieder klein und habe sich im Wald verlaufen und keiner der Wege führt dahin, wohin er sollte. Oder wenn man träumt, daß man die richtigen Zutaten für einen Kuchen nicht finden kann, also geht man in eine Höhle und borgt sie sich von einem Bär, der sprechen kann. Solche Sachen. Träume eben. Träume, in denen man fliegen oder unter Wasser atmen kann. Verrücktes Zeug. Aber eben nur Träume. Wie ich sie immer schon hatte. Nichts anderes.«
»Haben sie sich in der letzten Zeit verändert?«
»Nein. Wenn ich mich überhaupt an sie erinnere, dann sind es die gleichen.«
»Verstehe. Das klingt wirklich alles ziemlich normal.«
Nadine zog einen Umhang aus ihrem Beutel. »Ich denke, ich sollte jetzt besser aufbrechen. Mit etwas Glück bin ich zum Frühlingsfest wieder zu Hause.«
Kahlan runzelte die Stirn. »Ihr könnt von Glück reden, wenn Ihr es bis zum Mittsommernachtsfest schafft.«
Nadine lachte. »Das glaube ich kaum. Der Rückweg kann nicht länger dauern als der Weg hierher. Etwa knapp zwei Wochen. Ich brach auf, kurz nachdem der Mond im zweiten Viertel stand, und er ist noch immer nicht voll.«
Die Mutter Konfessor starrte sie verwirrt an. »Zwei Wochen.« Nadine hätte Monate brauchen müssen, um den weiten Weg von Westland hierher zureisen, insbesondere, da er über das Rang’Shada-Gebirge führte. »Euer Pferd muß Flügel gehabt haben.«
Nadine lachte amüsiert, dann erstarb ihr Lachen, und ihre glatte Stirn kräuselte sich. »Komisch, daß Ihr es erwähnt. Ich habe gar kein Pferd. Ich bin zu Fuß gegangen.«
»Zu Fuß«, wiederholte Kahlan fassungslos.
»Ja. Aber seit meinem Aufbruch hatte ich Träume, auf einem Pferd mit Flügeln zu fliegen.«
Angesichts der immer wieder neuen Einzelheiten von Nadines Geschichte hatte Kahlan Mühe, nicht den Faden zu verlieren. Sie überlegte, welche Fragen Richard stellen würde. Als Richard ihr all das vor Augen gehalten hatte, was sie Marlin hätte fragen müssen, ihr aber nicht eingefallen war, hatte sie sich äußerst dumm gefühlt. Zwar hatte er dem Ganzen die Schärfe genommen und ihr
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