Der Tempel
Alberto.«
»Ich?«, fragte ich und schluckte.
»Ja, du«, erwiderte Renco. »Alberto, ich erkenne die Eigenschaften eines Helden in dir, selbst wenn du es nicht tust. Du besitzt Ehre und Mut in weitaus größerem Maße als die gewöhnliche Seele. Wenn du es gestattest, werde ich dir, ohne zu zögern, das Schicksal meines Volkes anvertrauen, für den Fall, dass mir das Schlimmste zustößt.«
Ich senkte den Kopf und nickte, seinem Wunsch entsprechend.
»Gut«, lächelte Renco. »Bei dir dagegen«, sagte er mit einem allzu freundlich Grinsen zu Bassario, »würde ich doch beträchtlich zögern. Stell dich dort drüben hin!«
Sobald Bassario sich einige Schritte von uns entfernt hatte, beugte Renco sich nahe zu mir heran und zeigte auf das Steinbild des Rapas vor uns. »Der Schlüssel ist einfach: Folge dem Schwanz des Rapas.«
»Folge dem Schwanz des Rapas …«, wiederholte ich und blickte das Totem an. Deutlich erkennbar schlängelte sich aus dem Rücken des Bildnisses ein dünner, katzenartiger Schwanz heraus, der Richtung Norden wies.
» Aber« – Renco hielt jäh den Finger hoch – »nicht jedem Totem darf man auf diese Weise folgen. Und genau diese Regel kennt nur der oberste Adel. Ich selbst habe sie erst von der Hohen Priesterin von Coricancha bei unserer Ankunft dort erfahren, als wir das Götzenbild geholt haben.«
»Wie lautet diese Regel?«
»Nach dem ersten Totem muss man jedem zweiten Totem misstrauen. In diesem Fall muss man dem Totem in Richtung des Sonnenmals folgen.«
»Des Sonnenmals?«
»Ein Mal nicht unähnlich diesem hier«, erwiderte Renco und zeigte auf das kleine dreieckige Muttermal unter seinem linken Auge, den dunkelbraunen Hautfehler, der aussah wie eine umgekehrte Bergspitze.
»Bei jedem zweiten Totem«, sagte er, »dürfen wir nicht dem Schwanz des Rapas folgen, sondern müssen vielmehr in Richtung des Sonnenmals gehen.«
»Was geschieht, wenn man weiterhin dem Schwanz des Rapas folgt?«, wollte ich wissen. »Würden unsere Feinde letztlich nicht bemerken, dass sie in die falsche Richtung gehen, wenn sie keine weiteren Totems finden?«
Renco lächelte mich an. »O nein, Alberto. Sie werden weitere Totems finden, selbst wenn sie in die falsche Richtung laufen. Aber diese Totems werden den getäuschten Abenteurer weiter und weiter von der Zitadelle wegführen.«
Und so folgten wir den Totems durch den Regenwald.
Sie waren in verschiedenen Abständen aufgestellt – manche nur wenige hundert Schritte von ihren Vorgängern entfernt, andere einige Meilen weit. Also mussten wir sorgfältig darauf achten, dass wir in einer geraden Linie weitergingen. Oft half uns dabei ein Fluss, denn manche Totems standen entlang eines Ufers.
Indem wir den Totems folgten, gingen wir in nördliche Richtung, durchquerten das weite Tiefland des Regenwalds, bis wir ein neues Tafelland erreichten, das in die Berge hinaufführte.
Dieses Tafelland erstreckte sich von Norden nach Süden, so weit das Auge reichte – ein riesiges, von Dschungel bedecktes Plateau, eine einzelne Stufe, die unser Herr errichtet hatte, damit er darüber aus dem Regenwald zu den Ausläufern der Berge gelangen konnte. Die gesamte Längsseite war durchsetzt mit Wasserfällen. Es war wahrlich ein prächtiger Anblick.
Wir erstiegen die klippenähnliche östliche Wand, wobei wir unsere Schilfkanus und Paddel mitschleiften. Dann erreichten wir ein letztes Totem, das uns weiter flussaufwärts zu den gigantischen, schneebedeckten Bergen führte, die drohend den Regenwald überragten.
Inmitten des prasselnden Nachmittagsregens ruderten wir gegen die sanfte Strömung des Flusses an. Nach einer Weile hörte der Regen auf und in dem darauf folgenden Dunst nahm der Dschungel etwas Unheimliches an. Die Welt verfiel in eine seltsame Stille und – sehr, sehr merkwürdig – die Geräusche des Regenwalds verschwanden abrupt.
Keine Vögel sangen mehr. Keine Nager huschten noch im Unterholz umher.
Ich spürte eine Woge der Furcht durch meinen Körper rollen.
Etwas stimmte hier nicht.
Auch Renco und Bassario mussten es gespürt haben, denn sie ruderten jetzt langsamer, tauchten ihre Paddel lautlos in die glasige Wasseroberfläche, als trauten sie sich nicht, die unnatürliche Stille zu durchbrechen.
Dann umrundeten wir eine Flussschleife und sahen plötzlich eine Stadt am Ufer liegen, die sich an die Basis einer gewaltigen Bergregion schmiegte. Ein imponierender Steinbau stand stolz inmitten einer Ansammlung kleiner Hütten,
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