Der Tempelmord
ihm Befehle erteilen. Er wird die Hohepriesterin aufsuchen, wenn es ihm gefällt.«
Samu konnte sehen, wie dem Eirenarkes das Blut in den Kopf schoß. Einen Moment lang schien es, als würde er die Beherrschung verlieren. Seine Mundwinkel zuckten unruhig. »Ich hoffe, daß der Gott ein Einsehen in die Wünsche der Menschen hat, sonst könnte es sein, daß er allein im Olymp noch auf Asyl zu hoffen vermag.«
»Ich werde dem Neuen Osiris deine Botschaft ausrichten, Orestes«, entgegnete Samu ruhig. »Und ich werde ihm auch deinen Namen nennen, damit er weiß, wie du von ihm redest. Komm, Kleopatra, laß uns jetzt gehen.« Samu hatte sich halb zu der jungen Prinzessin umgewandt, die neugierig das Relief des blutbesudelten Thanatos musterte. Dann stieg sie mit Kleopatra an ihrer Seite stolz die Stufen des Tempels hinab.
In der Menge der Schaulustigen bildete sich eine Gasse, so daß die beiden ungehindert passieren konnten. Deutlich hörte Samu das verärgerte Getuschel der Epheser. Sie nannten sie flüsternd eine ägyptische Hexe!
Die Priesterin und die Prinzessin hatten schon fast den Eingang der Villa erreicht, als Kleopatra stehenblieb, um noch einmal zu dem mächtigen Tempel zurückzublicken. »Warum sind die Götter der Griechen so wunderlich, Samu?«
Erstaunt blickte die Priesterin das Mädchen an. »Wie meinst du das?«
»Thanatos muß seine Schwertscheide benutzt haben, um Buphagos zu köpfen. Wollte er damit seine Stärke demonstrieren?«
»Wovon redest du?«
»Das Blut . Es war an der Schwertscheide. Hast du denn nicht genau hingesehen? Thanatos hat sich nicht die blanke Waffe umgegürtet. Sie steckte in einer Scheide.«
Samu mußte sich eingestehen, nicht so sehr auf diese Kleinigkeiten geachtet zu haben, weil sie sich über die arrogante Art des Eirenarkes geärgert hatte. Das Schwert des Gottes war blau angemalt gewesen. Mitunter wählten Künstler diese Farbe auch, um den Schimmer von poliertem Eisen nachzuahmen.
Viel mehr hatte die Priesterin sich über die Tatsache gewundert, daß überhaupt Blut an der Waffe war. Doch auch diese Beobachtung paßte zu dem Bild, das sie sich von den nächtlichen Ereignissen gemacht hatte. Hoffentlich kamen nicht die Priesterinnen der Artemis zu demselben Schluß, zu dem sie gekommen war! Kleopatra würde sie auf keinen Fall in ihr Wissen einweihen.
»Wir Sterblichen werden das Wesen der Götter nie vollends erfassen können, Prinzessin. Auch wenn uns manchmal ihr Handeln sehr vertraut vorkommt, so tun sie doch schon im nächsten Augenblick wieder etwas, das uns völlig unbegreiflich ist. Betrachte nur Zeus, den Mächtigsten aller Olympier. Immer wieder gelüstet es ihn danach, das Lager mit Menschenfrauen zu teilen, doch kann er sie, obwohl er der erste aller Götter ist, nur selten vor dem Zorn seines eifersüchtigen Weibes, Hera, beschützen.«
»Kann es nicht auch sein, daß die Göttinnen in Wahrheit mächtiger sind als ihre Männer?«
Samu lächelte. »Ich denke, es wird nicht mehr lange dauern, bis du selbst die Erfahrung machst, welche Macht Frauen über Männer haben. Dann wird dir die Antwort auf diese Frage klar werden.«
Laute Stimmen im Atrium und ein ständiges Kommen und Gehen hatten Philippos aus dem Schlaf gerissen. Er konnte zwar nicht verstehen, worüber gesprochen wurde, doch ließ sich eine unbestimmte, nicht in Worte zu fassende Angst aus den Gesprächsfetzen heraushören, die zu ihm drangen. Offenbar beherrschte das rätselhafte Ende des Mundschenks am gestrigen Tage noch immer die Gemüter der Sklaven und Höflinge.
Eine Zeitlang blieb der Grieche unter seiner warmen Wolldecke liegen und lauschte auf die Geräusche in der großen Villa. An ihm hatte offenbar niemand Interesse. Keiner kam herein, um ihn zu wecken . Man brauchte ihn nicht! Ob dies schon die ersten Konsequenzen aus dem Gespräch mit dem König waren? Es hatte ihn bisher immer gewundert, wie schnell die sonst so oberflächlichen Höflinge bemerkten, wer in Ungnade gefallen war. Es war fast so, als sei man gestorben. Niemand nahm mehr Notiz von einem. Und wenn man hinging und einen der Hofbeamten ansprach oder auch nur mit einer der Tänzerinnen plauderte, mit denen sich der Herrscher gelegentlich vergnügte, dann schien es, als bereite es dem Gegenüber körperliche Qualen, mit einem zu reden. Jede Ausflucht war willkommen, um vor einem solchen Gespräch zu fliehen.
Zweimal hatte Philippos in seiner kurzen Zeit am Hof des Königs erlebt, was es hieß, ausgestoßen zu
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