Der Tempelmord
sein. Er hatte es beobachtet und keine besondere Teilnahme für das Schicksal der Betroffenen gezeigt. Jetzt war es vorbei mit seiner Rolle als unbeteiligter Beobachter!
Beklommen blieb er liegen und beobachtete, wie der schmale Streifen Sonnenlicht, der durch ein kleines, hochgelegenes Fenster in sein Zimmer fiel, langsam über den Boden wanderte.
Wenn das Licht seine Sandalen erreichte, dann würde er aufstehen. Er konnte sich nicht ewig unter seiner Decke verkriechen! Er durfte jetzt nicht den Kopf verlieren! Wenn er ein Geächteter war, dann würden sich auch daraus noch Vorteile für ihn ergeben! Er mußte nur lange genug darüber nachdenken. Fast jedes Problem ließ sich allein durch Nachdenken bewältigen!
Wenn die Epheser sich gegen Ptolemaios und die anderen ägyptischen Flüchtlinge erhoben, weil sie in dem Vorfall während der Prozession ein schreckliches Omen sahen, dann mochte es Philippos vielleicht sogar das Leben retten, wenn er beim König in Ungnade gefallen war. Geistesabwesend starrte der Grieche auf die kleinen Staubkörner, die in dem goldenen Sonnenstrahl auf und nieder tanzten, der das graue Zwielicht seiner Kammer durchschnitt. Nicht mehr lange, und der Lichtstreifen auf dem Boden hätte seine Sandalen erreicht.
Dicht neben den Schuhen lag seine zerknüllte Toga. Er hätte sich gestern abend nicht so gehen lassen dürfen! Er hatte das Kleidungsstück einfach zusammengeknüllt und von sich geworfen. Sie war hoffnungslos zerknittert. In diesem Zustand war es unmöglich, die Toga noch einmal so zu drapieren, daß ihr Faltenwurf seinen Vorstellungen vom korrekten Sitz dieses unbequemen Kleidungsstücks entsprechen würde. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zum Waschen zu geben, damit das Leinentuch frisch gestärkt wurde. Er würde also heute eine Tunica statt des unbequemen Staatsgewandes tragen.
Im Atrium war lautes Reden und das Tappen vieler Füße zu hören. Offenbar verließ eine Abordnung den Palast. Ob Ptolemaios schon zu dem Gespräch mit der Hohepriesterin des Artemisions aufgebrochen war? Als der Lärm im Innenhof verklungen war, ließ sich auch im übrigen Haus kaum noch ein Geräusch vernehmen. Es war, als sei die riesige Villa ausgestorben. Nur ganz selten waren die leisen Schritte der Sklaven zu hören. Offenbar hatte fast der ganze Hofstaat das Gebäude verlassen. Das war die Gelegenheit, um den Plan, den er letzte Nacht geschmiedet hatte, in die Tat umzusetzen.
Einen Moment lang spähte Philippos von der säulengerahmten Loggia ins Atrium. Niemand ließ sich auf dem Innenhof sehen. Nicht, daß er etwas Verbotenes plante, doch war es ihm lieber, keine Zeugen zu haben. Mit einem Schritt war er an der Hauswand und stieß die Tür zum Zimmer des Mundschenks auf. Der Arzt huschte durch den schmalen Spalt in den Raum und schloß die rotbemalte Holztür sofort wieder hinter sich.
Das Zimmer, das Buphagos bewohnt hatte, war auch nicht größer als seine eigene Kammer, stellte der Grieche zufrieden fest. Potheinos, der die Räume der weitläufigen Villa an die Mitglieder des Hofstaates aufgeteilt hatte, hatte sie beide also als gleichbedeutend eingeschätzt. Nun, Buphagos hatte nicht mehr viel von dieser Ehre.
Das kleine Zimmer war sauber und ordentlich aufgeräumt. Nirgends lag ein zerknülltes Wäschestück oder eine achtlos zur Seite gelegte Schriftrolle. Es gab keine Blumen oder versteckte Hinweise darauf, daß der Mundschenk hier einmal eine Frau empfangen hätte. Es war das Zimmer eines Langeweilers, dachte Philippos spöttisch. Genau das, was er vorzufinden erwartet hatte! Und doch mußte es um den Mundschenk ein Geheimnis geben, denn sonst würde er gewiß noch unter den Lebenden weilen.
Während er sich langsam um die eigene Achse drehte, musterte der Grieche das Zimmer. An der Wand, rechts neben der Tür, stand eine niedrige Kline und daneben ein kleines Tischchen auf schlanken Beinen. Neben einer Öllampe mit sorgsam zurückgestutztem Docht lag, in eine Lederhülle geschoben, eine Pergamentrolle. Was der Mundschenk wohl gelesen haben mochte? Neugierig nestelte Philippos am Verschluß der Hülle herum und zog das Pergament heraus. Aufgeregt überflog er die ersten Zeilen des Dokuments.
»Da bewaffnete sich Athene, legte den schimmernden Ägispanzer an, in dessen Mitte das Gorgonenhaupt mit den feurigen Schlangenhaaren starrte, und faßte eines der Geschosse des Vaters. Dann ließ sie den Olymp von Donnerschlägen erheben, goß Wolken rings um die Berge und
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