Der Tempelmord
schmerzte es sie, ihren toten Körper in den Armen zu halten. Sie war fast noch ein Mädchen. Die Priesterin betrachtete die zarten, flachen Brüste der Hetaire. Wahrscheinlich hatte Thais nicht einmal siebzehn Sommer gesehen. Samu konnte sich nicht vorstellen, daß es die Idee des Mädchens gewesen war, in den Gewändern einer Artemispriesterin zum Pharao zu kommen.
Es mußte der Flötenspieler gewesen sein, der sie dazu verführt hatte! Doch warum hatte der Zorn der Göttin dann nicht auch ihn getroffen? Warum hatte Artemis das Mädchen mit ihren Pfeilen gerichtet?
Potheinos brachte eine flache Schale mit Wasser, und wortlos nahm Samu das zarte Kleid, das Thais getragen hatte, um es anzufeuchten und der Toten die blutigen Tränen und die Schminke aus dem Gesicht zu wischen. Sanft schloß sie dem Mädchen die Augen. Der Schmerz und die Angst des Todeskampfes spiegelten sich nicht mehr in ihren Zügen. Es sah fast so aus, als würde sie schlafen.
»Bringt sie auf ihr Zimmer! Wir wollen sie nicht mehr sehen. Nie mehr!«
Philippos nahm das tote Mädchen auf den Arm. Das Gesicht des Griechen erschien der Priesterin grau. Welche Sorgen ihn wohl in dieser Nacht wach gehalten hatten? Ob auch er sich vor dem Zorn der Göttin fürchtete? Würde es noch weitere Tote geben? Schweigend folgte sie dem Arzt.
Potheinos öffnete ihnen die Tür, die auf den Flur vor den Gemächern des Pharao führte. Die dort versammelten Höflinge verstummten sofort.
»Der göttliche Pharao hat Thais verstoßen«, verkündete Potheinos mit fester Stimme. »Sie hat sein Mißfallen erregt und muß bis Sonnenuntergang den Hof verlassen. Der Zorn des göttlichen Herrschers hat sie ihrer Sinne beraubt, denn kein Sterblicher kann den Unwillen eines Gottes ertragen.«
Samu zuckte bei den Worten des Eunuchen zusammen. Kein Sterblicher kann den Unwillen eines Gottes ertragen. Mit ihren Lügen verärgerten der Pharao und er Artemis nur noch mehr. Ob wohl Potheinos der nächste sein würde, den die Pfeile der Jägerin trafen?
Unter den Höflingen erhob sich besorgtes Gemurmel, während sie eine Gasse öffneten, um Philippos und Samu hindurchzulassen.
Mit einem Seufzer legte der Grieche die tote Hetaire auf ihre mit Seide bezogene Kline. Leise fauchend sprang eine kleine Katze zwischen den Laken hervor und verschwand in einem dunklen Winkel des Zimmers. Thais hatte neben ihrem Nachtlager eine Öllampe brennen lassen, ganz so, als habe sie sich wie ein Kind vor der Dunkelheit gefürchtet.
Müde ließ der Arzt seinen Blick durch das Gemach schweifen.
Es war größer als sein eigenes und luxuriöser eingerichtet.
Unverkennbar war Thais dem Pharao sehr wichtig gewesen.
Bis heute abend jedenfalls . Traurig blickte er zu dem toten Mädchen. »Was sollen wir sagen? Wie werden wir bei Hof ihren Tod erklären?«
»Der Zorn des göttlichen Pharao hat sie das Leben gekostet. Potheinos hat uns doch schon einen Weg gewiesen«, erklärte die Priesterin zynisch.
Philippos schüttelte den Kopf. »So leicht können wir es uns nicht machen. Sie muß Wundmale aufweisen, oder es wird wieder zu Gerede über die Pfeile der Artemis kommen.«
»Ich bin Heilerin, Arzt! Wann wirst du begreifen, daß ich keine Leichen verstümmele?«
Der Grieche blickte wütend zur Priesterin. »Du mußt nicht glauben, daß es mir Freude bereitet. Aber wenn wir nichts unternehmen, kann das den ganzen Königshof den Kopf kosten. Ich war diese Nacht in der Stadt, und ich kann dir sagen, daß Ptolemaios und die seinen dort nicht gerade beliebt sind! Gib mir meine Tasche!« Halb riß er Samu die lederne Tasche aus der Hand. Sie machte es sich zu einfach mit ihrem schlichten Bild von Gut und Böse. Verfluchte Priesterin! Er öffnete die Schnallen am Verschluß und zog eines der Messer heraus. Dann ließ er sich neben der Toten auf der Kline nieder und nahm ihren rechten Arm. Seine Hand zitterte leicht, als er die Klinge an Thais Handgelenk ansetzte. Mit einem kurzen Schnitt durchtrennte er ihre Schlagadern. Anschließend nahm er sich den anderen Arm und wiederholte dort die Prozedur.
Mürrisch wischte er die Klinge am Laken sauber und steckte sie in die Ledertasche zurück. Nur wenig Blut tröpfelte aus den Wunden der Hetaire, doch das spielte keine Rolle. Wenn er am Hof erklärte, sie habe sich aus Verzweiflung über die Verbannung das Leben genommen, dann würde man ihm schon glauben. Und sollte es zu einer Untersuchung durch die Priesterinnen der Artemis kommen, so waren die beiden
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