Der Tempelmord
Gesicht war auf seltsame Art geschminkt. Vor ihm auf dem Boden lag Thais. Sie krümmte sich vor Schmerzen und hielt die Hände auf ihr Gesicht gepreßt. Einen Augenblick lang war Philippos versucht, den Herrscher zu fragen, was bei den Göttern er mit der Hetaire gemacht hatte, doch der Arzt beherrschte sich. Es stand ihm nicht zu, einen König und Gott nach seinen Vorlieben im Liebesspiel zu fragen.
Samu kniete schon an der Seite der Frau. Sie versuchte, die Arme der Hetaire zur Seite zu drücken, um ihr ins Gesicht zu sehen. Philippos kam ihr zur Hilfe. Er legte seine lederne Tasche in Griffweite und flüsterte leise. »Es wird wieder gut. Wir werden dir helfen, Thais. Du ...« Die Worte blieben dem Arzt im Hals stecken. Erst jetzt erkannte er, wie die Hetaire gekleidet war. Sie trug den kurzen Chiton einer Artemispriesterin und dazu flache Sandalen. Sie hatte sogar deren Art, sich zu schminken und die Haare zu frisieren, nachgeahmt.
Wenn man sie nicht kannte, mochte man sie durchaus für eine Priesterin des Heiligtums halten.
Erschrocken blickte der Arzt zu Samu. »Hast du gesehen, wie .«
»Ja.« Die Isispriesterin nickte knapp. »Wir haben jetzt anderes zu tun.« Sie hatte diese Worte geflüstert, doch jetzt hob sie ihre Stimme. »Sieh dir ihr Gesicht an!« So wie Buphagos liefen auch der Hetaire blutige Tränen aus den Augen.
»Was ist . mit mir?« Thais Stimme war kaum mehr als ein Hauch.
Philippos beugte sich zu ihr hinab und strich ihr sanft über die Stirn. »Die Priesterin meint nur, daß deine Schminke verlaufen ist. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wir werden dir helfen und dir .«
»Es tut . so weh .«
»Ich werde dir etwas geben, das die Schmerzen vertreibt.« Philippos griff nach seiner Tasche und holte ein kleines Gefäß aus Alabaster hervor.
»Was willst du ihr geben?«
Der Arzt warf der Isispriesterin einen zornigen Blick zu. Sie sollte endlich aufhören, sich in seine Therapien einzumischen.
» Mondtränen. Ein Kügelchen, so groß wie eine Erbse. Es wird ihre Schmerzen vertreiben. Sie wird einschlafen.«
»Du weißt .« Ausnahmsweise lag kein Vorwurf in der Stimme der Priesterin. Sie klang traurig und müde.
»Ja.« Philippos wußte sehr gut, daß Thais wahrscheinlich nicht mehr erwachen würde. Im Schlaf würde ihr Thanatos begegnen und sie mit sanftem Flügelschlag in den Hades hinabgeleiten. Die Maekonos-Pflanze, deren milchigweißen Saft man die Tränen des Mondes nannte, war dem Todesgott geweiht. Er würde Thais freundlich empfangen.
Mit einem Schrei bäumte sich die Hetaire auf und riß sich los.
Wieder preßte sie beide Hände auf die Augen. In Krämpfen zuckend wand sie sich hin und her.
»Hilf uns und halt sie fest!« herrschte Samu Potheinos an, der untätig neben ihnen stand. Die Priesterin versuchte, Thais zu fassen zu bekommen.
Philippos hatte inzwischen aus dem geronnenen und mit Honig versetzten Maekonos-Saft, den er in dem AlabasterTiegel verwahrte, ein kleines Kügelchen gedreht.
Potheinos und Samu war es gelungen, die Hetaire wieder zu Boden zu drücken. Vorsichtig öffnete der Arzt dem Mädchen den Mund und schob ihr die Kugel unter die Zunge. Schwarzrote Tränen aus Blut und Augenschminke rannen ihr zwischen den Fingern hindurch.
»Es tut so . weh .«
»Gleich wirst du schlafen. Isis, die Zauberreiche, wird den Schmerz von dir nehmen und dir schöne Träume schenken.«
Samus Stimme klang sanft und vertrauenerweckend, so als sei jedes Wort wahr, das sie sprach. Ein wenig beneidete Philippos sie darum. Ihm fehlte die Gabe, Sterbenden mit schönen Lügen ihren letzten Weg zu erleichtern. Aber vielleicht glaubte die Priesterin ja wirklich, was sie sagte?
Ein Zittern durchlief den Körper der Hetaire. Ihre Hände glitten ihr vom Gesicht. »Es ist ... so kalt ...« Philippos nahm ihre Rechte und rieb den Handrücken. Die Finger des Mädchens waren tatsächlich kalt. Das Rot unter ihren Nägeln hatte sich dunkel verfärbt. Es würde nicht mehr lange dauern .
»Ich will . noch nicht . sterben . Bitte . jagt sie weg. Sie sollen nicht . näher kommen .«
Thais Finger verkrampften sich. Sie hatte die Augen jetzt weit aufgerissen und sah Philippos direkt ins Gesicht. Der Arzt konnte ihrem Blick nicht standhalten. Er hatte die überhebliche Hetaire nie gemocht, doch ein solches Ende hatte sie nicht verdient.
Er war zu weich! Er hatte schon Hunderte Männer sterben sehen, und doch hatte er nie gelernt, den Tod hinzunehmen.
»Philip . pos . bitte . « Die
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