Der Tempelmord
einem weiten Feld gewesen. Es war Nacht, und der Sturmwind fegte vom Meer heran. Auf dem Wind reitend waren Frauen mit Vogelschwingen und Adlerkrallen statt Füßen gekommen. Harpyien! Sie wollten ihn vom Boden reißen, mit sich in die Lüfte heben und davontragen.
Der Nachthimmel war von ihren schrecklichen, heiseren Schreien erfüllt gewesen. Diese Schreie waren es, die ihn hatten aufwachen lassen. Unmenschlich und ...
Im hinteren Flügel der Villa ertönte ein langgezogenes Kreischen. Immer höher und schriller wurde das Geschrei. Philippos preßte sich die Hände auf die Ohren. Er träumte doch nicht mehr! Er war wach ... In Sicherheit, in seiner Kammer und im Bett. Er hatte hier keine Harpyien zu fürchten! Was immer dort vor sich ging, er hatte nichts damit zu tun! Er würde sich jetzt hinlegen, die Wolldecke über den Kopf ziehen, sich die Ohren zuhalten und wieder schlafen.
Das Geschrei war zu einem Wimmern geworden, das fast völlig vom Wüten des Sturms überlagert wurde. Aus dem Atrium erklang das Geräusch von Sandalen. Es kam näher . Bis zu seiner Tür!
Ein junger Sklave mit einer Fackel in der Hand trat ins Zimmer! »Schnell, Herr, der Pharao befiehlt, daß Ihr zu ihm kommt. Es ist wichtig!«
Wieder erklang das unmenschliche Schreien. Es war wie auf den Schlachtfeldern, wo Männer mit abgebrochenen Speerschäften im Bauch jämmerlich verreckten. Dutzende hatte er so sterben sehen. Man konnte ihnen nicht mehr helfen.
Manche schrien sich schier die Lunge aus dem Leib, bis sie schließlich in sich zusammensanken, andere wimmerten leise vor sich hin. So ein Tod konnte Stunden dauern. Es hing ganz davon ab, wie stark man war und wie verbissen man sich an sein Leben klammerte. Gewonnen hatte diesen Kampf jedoch nie jemand.
Das Kreischen verebbte erneut. Der Sklave trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Herr, bitte . Der Neue Osiris will Euch sehen. Es eilt!«
»Was ist denn los?«
»Keiner weiß es! Der Pharao läßt niemanden in seine Gemächer. Von dort kommen die schrecklichen Schreie. Er hat mir durch die verschlossene Tür befohlen, Euch zu holen.«
Philippos fluchte leise. Was mochte dort unten vor sich gehen? Schon zweimal war er mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen worden, damit er sich um Verletzungen kümmerte, die sich Frauen zugezogen hatten, die an den wilden Orgien des Herrschers teilnahmen. Je geringer die Aussichten wurden, noch einmal nach Ägypten zurückzukehren, desto ausschweifender wurden die Feste des Königs. Ptolemaios gab sich manchmal recht eigenartigen Gelüsten hin. Aber solche Schreie wie heute ...
Wie zur Antwort auf seine Gedanken erklang erneut das unheimliche Kreischen. Was zum Henker mochte da vorgefallen sein?
»Bitte, Herr. Der Neue Osiris haßt es zu warten ...«
»Ja, ja!« Philippos schob die Wolldecke zur Seite, schlüpfte hastig in eine Tunica und griff nach der Ledertasche mit seinen chirurgischen Instrumenten und dem Verbandszeug.
Der Sklave führte den Arzt durch das Atrium in den hinteren Teil der großen Villa. Vor den Gemächern des Königs drängten sich einige Sklaven und Höflinge. Auch Samu war dort. Die Priesterin hatte tiefe Ränder unter den Augen und war so bleich wie eine Toga candida. Allem Anschein nach hatte sie diese Nacht nicht allein in Morpheus Armen verbracht.
Der Sklave klopfte energisch gegen die rot gestrichene Tür, hinter der jetzt leises Schluchzen erklang. »Göttlicher Pharao, ich bringe den Arzt!«
Die Tür öffnete sich einen Spalt, und das Gesicht von Potheinos erschien. »Schick ihn rein!« Der Blick des Eunuchen fiel auf Samu, und er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Priesterin. »Du kommst am besten auch gleich!«
Philippos schob sich durch die Tür und achtete instinktiv darauf, daß er den Spalt mit seinem Körper so weit ausfüllte, daß die Höflinge nicht hineinschauen konnten. Was auch immer in den Gemächern des Königs geschehen sein mochte, es war offensichtlich, daß der Hofstaat davon zumindest zunächst nichts wissen sollte.
Potheinos führte sie beide durch den kleinen Raum, in dem sie sich erst am vorigen Abend mit dem Herrscher beraten hatten, und ging weiter bis in das Schlafgemach des Königs. Ptolemaios saß bleich und zitternd auf einem Lager aus Kissen und Decken. Mit beiden Händen hielt er eine Flöte umklammert, so als wolle er sich an dem zierlichen Instrument festhalten.
Er war fast völlig nackt. Ein Kranz aus Weinlaub hing schief in seinem strähnigen Haar, und sein
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