Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
durch den Raum schweifen, ehe er fortfährt. „Piel hat regelmäßig Bericht erstattet. Telefonisch und per Post. Er ist ein sehr gründlicher Mensch. Gewissenhaft. Penibel.“ Obermeier fährt sich mit der Hand über den Mund. „Vor einigen Monaten brach der Kontakt zu Piel einfach ab. Da war nichts mehr. Kein Anruf, kein Brief. Gar nichts. Als hätte der Gletscher da oben sich einfach aufgetan und ihn verschluckt.“
Erik starrt Obermeier lange an. Er spürt leichte Benommenheit in sich aufsteigen. Ein Kribbeln in seinem Nacken bahnt sich an seinem Rückgrat entlang den Weg nach unten. „Was wollen Sie von mir?“, fragt er, und es klingt lauter, harscher, als er beabsichtigt hatte.
Obermeier hebt beschwichtigend die Hände. „Sch!“, macht er, und seine Augen zucken hektisch durch den Raum. „Bleiben Sie ruhig, Strauss. Das hier ist keine große Sache, in Ordnung? Ich bitte Sie lediglich um einen Gefallen.“
Erik trinkt von seinem Bier, und als er den Krug absetzt, ist dieser fast leer. „Keine große Sache? Sie sagen mir, dass in diesem Kaff irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht, dann sagen sie mir, dass da oben ein Mann verschwunden ist, ein junger Pfarrer, der Kerl ist einfach weg, und jetzt wollen Sie mich da hin schicken? Sind Sie noch bei Trost, Mann? Warum haben Sie nicht die Polizei eingeschaltet?“
Obermeier senkt den Blick, betrachtet den Tisch, verzieht den Mund und faltet die Hände. Erst dann sieht er wieder auf. „Tut mir leid. Wahrscheinlich habe ich mich einfach schlecht ausgedrückt. Ich bitte Sie lediglich um einen Gefallen. Wenn Sie dort oben sind, in Thannsüß, dann halten Sie die Augen auf nach Piel. Es gibt keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen, falls Sie das glauben. Wir haben nicht den geringsten Anlass anzunehmen, dass Cornelius Piel etwas zugestoßen ist, um Gottes willen!“ Obermeier lacht auf.
Erik trinkt von seinem Bier und stellt den leeren Krug zurück auf den Tisch. „Das gefällt mir nicht“, sagt er schließlich. „Sie verheimlichen mir etwas.“
„Und was sollte das sein?“ Obermeier lehnt sich zurück und breitet die Arme aus.
Erik schüttelt stumm den Kopf.
„Also gut“, sagt Obermeier. „Karten auf den Tisch. Sie wollen eine Anstellung in München, damit Sie sich mit Ihrer Frau und Ihrem Kind eine Existenz hier aufbauen können, richtig?“
Erik stößt ein bitteres Schnauben aus. „Wirklich clever. Ist Wahrsagerei Ihr Beruf oder nur ein Hobby?“
„Ich bin Schulrat. Bislang ist es nur ein Hobby.“ Obermeier lächelt. „Ich habe den Bauch Ihrer Frau gesehen, es war eine reine Vermutung.“ Er winkt die Bedienung heran, bestellt eine weitere Runde Bier und Schnaps. „Also: Sie wollen hier bleiben, ich will wissen, was mit Piel passiert ist. Sobald Sie mir sagen, wo der alte Knabe abgeblieben ist, sorge ich dafür, dass eine renommierte Schule in Ihrem Viertel Sie mit Kusshand nimmt.“
Erik schließt für einen Moment die Augen. „Und wenn ich nichts über diese Piel herausfinde?“
„Dann bleiben Sie in Thannsüß. Frische Luft, viel Schnee, nette, einfache Menschen. Wird Ihnen gefallen.“ Obermeier hebt sein Schnapsglas. „Sind wir im Geschäft?“
Erik stürzt seinen Schnaps herunter, ohne Obermeier anzusehen. Dann knallt er das Glas zurück auf den Tisch. „Ja“, stößt er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. „Wir sind im Geschäft.“
Einmal erwachte er völlig orientierungslos. Er fand den Lichtschalter nicht, und die Stelle neben ihm, wo Marie hätte liegen sollen, war leer. Er brauchte einige Sekunden, um sich daran zu erinnern, wo er war. Es war kalt im Gästehaus unter dem Gletscher, und am Rande seines Bewusstseins nahm er wahr, dass die Eingangstür offen stand. Gefangen in einem Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen nahm er sich vor, aufzustehen und die Tür zu schließen. Aber dann drehte er sich einfach auf die andere Seite und wickelte die Daunendecke um sich. Der Wind rauschte um das Haus und fing sich hoch über dem Dorf in den Spalten des Gletschers. Ein merkwürdiges Heulen wehte vom Gipfel herab über die Dächer von Thannsüß wie ein Vorbote kommenden Unheils.
Kapitel 5
Ein energisches Klopfen weckte ihn. „Wachen Sie auf, Herr Lehrer!“, hörte er die Wirtschafterin rufen. „Aufstehen!“
Er stöhnte und richtete sich im Bett auf. „Ich bin wach“, murmelte er. Dann rief er laut: „Ich bin wach!“
„ Stehen Sie auf, es ist schon nach zehn. Der Herr Pfarrer erwartet
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