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Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Titel: Der Teufel in Thannsüß (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rupert Mattgey
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Sie.“
    Er gähnte. „Geben Sie mir fünf Minuten.“
    „Kommen Sie rüber ins Pfarrhaus. Ich bin in der Küche. Und das nächste Mal schließen Sie die Eingangstür. Sie holen sich ja den Tod. Es wird sehr kalt hier nachts.“
    Er hörte, wie ihre Schritte sich entfernten. Er schlug die Daunendecke zurück und schwang die Füße aus dem Bett. Die Federn quietschten leise, als er sich aufsetzte. Der Raum war stark ausgekühlt. Er fragte sich, ob er wirklich die Tür aufgelassen hatte. Ein verschwommenes Bild stieg in ihm auf, ein Traumfragment von letzter Nacht, aber es war nicht greifbar und verschwand ebenso schnell, wie es aufgetaucht war. Er streckte sich. Der Schmerz in seinem rechten Bein war nahezu vollständig abgeklungen. Er sah auf das unberührte Bett neben seinem eigenen und wünschte, Marie wäre bei ihm.
    Dann seufzte er und blickte aus dem Fenster über dem Nachtkästchen. Gestern hatte es ihm nur Dunkelheit und die Spiegelung seines eigenen Gesichtes gezeigt: das kantige Kinn schlammverkrustet, die dunkelbraunen Augen müde, das schwarze Haar zerzaust. Im Licht des neuen Tages sah er die knorrigen Stämme der Obstbäume vor dem Hintergrund einer schroffen, steil ansteigenden Felswand. Er wandte sich nach rechts und sah aus dem Fenster über dem Waschtisch. Direkt unter dem Fenster fiel die Flanke des Hochplateaus steil ins Tal ab. Der Hang war über und über mit Tannen gesäumt. Er sah die Gletscherzunge, die vom Gipfel des Großen Kirchners strömte wie ein Fluss aus Eis. Die weite, schlammige Ebene, die er gestern überquert hatte, lag nass und glänzend im Sonnenlicht. Im Tal hatte die Sonne den Frühnebel noch nicht aufgelöst, und das Land sah aus, als hätte jemand ein dampfendes weißes Tuch darüber gebreitet. Der Ausblick war atemberaubend.
    Er nahm die metallene Waschschüssel vom Tisch und trat ins Freie. Es war nahezu windstill. Neben dem Pfarrhaus ragte der Turm der Dorfkirche in den Himmel. Die Kirche war ganz mit weißem Holz verkleidet. Die Sturmböen, die in der Nacht den Gletscher zum Singen gebracht hatten, hatten den Himmel blank gefegt und ein strahlendes Blau zurückgelassen. Erik hob den Blick und ließ ihn den Gipfel des Großen Kirchners hinaufwandern. Über den rauen Fels, über die Spalten und Risse, über Senken und Erhebungen und Überhänge. Bis ganz nach oben, wo die Eismassen des Gletschers thronten. Die Sonne stand direkt hinter dem Grimbold und verwandelte die Schneefahnen, die der Wind über seine Kante trieb, in tanzende Flammen.
    Erik wusste nicht, wie lange er dort gestanden hatte, die Augen zum Gletscher erhoben, als die Stimme der Wirtschafterin ihn aus seiner Trance riss.
    „Was machen Sie denn da? Schlafen Sie im Stehen?“
    Geblendet wandte der Lehrer den Blick ab. „Nein“, rief er und versuchte zu sich zu kommen. „Ich habe nur den Gletscher betrachtet. Er ist wunderschön.“
    „Wunderschön würde ich nicht sagen“, antwortete sie. „Er ist ein gemeines altes Monster. Und er frisst Menschen.“
    Erik tastete ihr Gesicht mit den Augen ab, auf der Suche nach einem versteckten Lächeln, einem schelmischen Funkeln in ihrem Blick, einem Zittern ihrer Mundwinkel, doch er fand nichts davon. Irritiert wandte er sich ab.
    „Sehen Sie nicht zu lange da hoch“, sagte sie, „sonst werden Sie blind. Und ziehen Sie sich um Gottes Willen etwas an, was soll denn der Herr Pfarrer denken!“
    Ihm wurde bewusst, dass er nur mit Unterwäsche bekleidet mitten auf dem Pfarrhof stand. Schnell füllte er die Waschschüssel mit frischem Wasser aus der Pumpe neben dem Abort. Dann wusch er sich unter dem eiskalten Strahl. Im Gästehaus rubbelte er seinen Körper mit einem Handtuch ab und zog sich eine neue Hose und ein sauberes Hemd an. Darüber zog er einen dicken Wollpullover.
    Dann machte er sich an die systematische Durchsuchung des Gästehauses. Er war sich sicher, dass auch Cornelius Piel hier einquartiert worden war. Und wenn das der Fall war, so musste er Spuren hinterlassen haben. Ein Kleidungsstück vielleicht; einen Brief; irgendeinen Hinweis auf seinen Verbleib. Er durchsuchte den Schrank, das Regal, das Nachtkästchen. Er sah unter beiden Betten nach, hob sogar die Matratzen an. Er nahm das Kreuz von der Wand, drehte es in den Händen hin und her und hängte es schließlich zurück an den Nagel. Er rückte die alten Sessel vor dem Kamin beiseite und schob sie entmutigt wieder zurück in die Ausgangsposition. Schließlich ging er vor dem Kamin in die Knie,

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